Die einen sagen Liebe, die anderen sagen nichts: Roman (German Edition)
und das ist fast noch schlimmer, als völlig talentfrei zu sein. Von meinem Kunststudium blieb nichts als die Enttäuschung, dass auf meiner Leinwand am Ende immer etwas anderes war als das, was ich vor meinem inneren Auge gesehen hatte. Und keiner merkte es. Im Gegenteil, Marek gelang es sogar immer wieder, Bilder von mir in seinem gut betuchten Freundeskreis zu verkaufen. Erst als meine Motive nur noch an Wasserleichen erinnerten, deckten sich endlich Innen- und Außenwelt, aber das war auch das Ende meiner kleinen Erfolgsserie. Inzwischen lebt es sich ganz gut mit dem Wissen, dass mich die Kunst wohl ebenso wenig braucht wie ich sie. Ich brauche auch das Geld nicht, das ich für meine Entwürfe von Hannes kriege. Für ihn bin ich die Goldgrube schlechthin, ich veredle seine Bude mit künstlerischen Dienstleistungen, die in der Szene kaum jemand bietet, und Hannes hat seinen eigenen Lebenslauf den gehobenen Ansprüchen seiner Neukunden angepasst: Inzwischen hat er die Grundlagen der Tätowierkunst nicht mehr in der JVA Oldenburg gelernt, sondern im berüchtigten Hilton-Knast in Bangkok, wo ihm ein Mitgefangener eine große Zukunft an der Seite einer bedeutenden Künstlerin weissagte.
Die Idee zu unserem gemeinsamen Projekt war im vorletzten Sommer in einer viel zu warmen Nacht an einem Biergartentisch entstanden, wo ich gelangweilt in meinem Notizblock herumkritzelte, um mich am Rauchen zu hindern, und Hannes sich am anderen Ende der Bank erhob, was einen fatalen Hebeleffekt zur Folge hatte. Anders als durch einen Unfall hätten sich unsere Wege niemals kreuzen können. Ich war gerührt von der Bestürzung des riesigen Mannes, den ich wegen seiner Tätowierungen anfangs für einen echten Maori-Krieger hielt, und ließ mich von ihm zu einem Bier einladen. Der Rest ist Geschichte, die große Zukunft wurde vor zwei Wochen von der bedeutenden Künstlerin höchstpersönlich beendet. Vorausgegangen war eine unkontrolliert wachsende Anzahl von Aufträgen, die mir zu viel Zeit und vor allem zu viel echte Leidenschaft abverlangt hätten, sowie ein grauenhaft missglückter Versuch von Hannes, Sex mit mir zu haben, der nur mir die Augen öffnete und seine noch mehr verklärte. Hannes ist ein guter Mann. Ich weiß, wie das Backpiece seiner Träume aussehen würde, das er in zehn Jahren in Auftrag geben würde, hätte er noch ein paar Quadratzentimeter Haut frei: kosmische Vermählung, mehrere Kinder, Kreuzfahrt auf einem Schiff der Hurtigruten. Und überall steht »Mila forever«. Ich will aber nirgendwo mit drauf sein. Das ist der Punkt.
Lieber Hannes, schreibe ich jetzt, und die Novembersonne lässt die Staubschicht auf meinem Computermonitor aufleuchten, so dass ich ihn zur Seite drehen muss, Hannes, ich meine es ernst, und es tut mir leid, dass es dich so fertigmacht. Ich will wirklich aufhören. Sag deinen Kunden, dass ich nur noch die beiden Rücken machen werde, für die ich schon die Vorgespräche geführt habe. Nenn mich eine unzuverlässige Schlampe und schieb alles auf mich. Es stimmt ja auch. Und hör bitte auf, mich anzurufen. Ich will mit dir reden, aber nicht jetzt. Ich fahre noch mal für ein paar Tage weg, und wenn ich wiederkomme, erledige ich die restlichen Sachen. Ich fände es schön, wenn wir uns im Guten trennen würden. Und wenn nicht, gehe ich trotzdem.
Ich schicke die Mail ab, bevor ich der Versuchung erliege, noch eine etwas nebulösere Version zu schreiben, mit der ich mir wenigstens ein paar Optionen offenhalten könnte, jetzt, wo ich mich so hundeelend und allein fühle. Dann suche ich Mareks Nachricht im Posteingang, drucke die angehängten Formulare aus und stecke sie ein. Weg von hier heißt weg vom Festnetz, ich überlege hin und her, ob ich eingehende Anrufe auf mein Handy umleiten soll, entscheide mich schließlich dagegen und ernte matten Applaus von meinem erschöpften Sicherheitsteam, das sich heute noch nicht zum Dienst gemeldet hat.
Meine Sachen sind schnell gepackt, planlos wie immer. Ich nehme das rote Kleid, das seit Mittwochabend betäubt über einer Stuhllehne hängt, und lege es dazu. Ich weiß nicht, warum. Marek wird wahrscheinlich konsterniert gucken, wenn er es sieht, und mir vorschlagen, mich aus seinem Kleiderschrank zu bedienen, wenn ich schon Lust habe, Mädchen zu spielen. Marek. Ich freue mich auf ihn.
Mein gestriges Abendessen schmeckt sogar im kalten Zustand, den Rest entsorge ich und stelle den Müllbeutel zusammen mit Hannes’ Rosen an die Wohnungstür, damit
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