Die einen sagen Liebe, die anderen sagen nichts: Roman (German Edition)
schliefen, die eigentlich nur mit mir schlafen sollten. Ich atme mich durch mein Leben, ich atme Wut ein und Dankbarkeit aus, ich atme Wut ein und Wut aus, ich atme Liebe ein und Simon aus, und manchmal weiß ich nicht, wie das heißt, was ich ein- und was ich ausatme, aber ich atme weiter.
Es ist Mittwoch, als ich zum ersten Mal mit meinem Kaffee in der Küche stehe und keine Lust habe, wieder nach oben zu gehen. Marek hat mir einen Zettel hinterlassen, auf dem er ankündigt, heute Nachmittag zu Hause zu sein. Und dass er sich auf mich freue. Ich nehme eine Decke mit und setze mich nach draußen in den Garten, dessen Gestaltung offenbar weder Marek noch Helmut so richtig am Herzen liegt, lauter trister, vermooster Rasen, vom Laub der Bäume aus der Nachbarschaft bedeckt. Die Kälte des Plastikstuhls unter mir kriecht durch die Decke in meine Beine und meinen Hintern, aber ich harre trotzdem eine Viertelstunde dort aus, und dann gehe ich rein und stelle mich unter die heiße Dusche, eine Ewigkeit lang. Und dann schreibe ich meine Liste.
Als Marek nach Hause kommt, warte ich in der Küche auf ihn. Er hat Essen mitgebracht, Sushi für sich selbst und für mich ein asiatisches Gericht von seltsamer Textur, das ich aus Höflichkeit und vor allem aus Dankbarkeit aufesse, weil er sich noch daran erinnert, dass ich Sushi nicht mag. Wie oft haben wir uns in den vergangenen zehn Jahren gesehen? Sieben, acht Mal? Das Verschwinden unserer Eltern hat uns in verschiedene Sonnensysteme katapultiert, und während Marek in seiner Umlaufbahn erst um Vermögenswerte und später um Vermögenswerte und Kokain kreiste, hatte ich meinen Hass in den Mittelpunkt meines Universums gestellt. Als ich dann mit der ersten Therapie anfing, kamen von Marek nur zynische Bemerkungen am Telefon, aber es muss ihm eine Höllenangst eingejagt haben. Nichts war ihm damals wichtiger als die Feststellung, er habe weder unter seiner Kindheit gelitten noch sei er am mutmaßlichen Selbstmord unserer Eltern zerbrochen. Wahrscheinlich fand er, wer schwul ist und auf Frauenkleider steht, muss sich nicht auch noch so was antun, aber leider ging seine Rechnung nicht ganz auf. Die Arbeit, der Stress, die Hektik der Finanzmärkte, erklärt Marek, wenn man ihn auf seine Jahre mit Koks anspricht, und dann natürlich die Stricher aus der Ukraine, die ständig Nachschub forderten, hahaha. Aber dann war zum Glück Helmut aufgekreuzt, ein Mann, so geradlinig und kompromisslos wie sein Scheitel, und seitdem kommt mir Mareks Leben wie der Epilog zu einem Happy End vor.
»Mir kommt dein Leben wie der Epilog zu einem Happy End vor«, sage ich zu Marek, der sich prompt an seinem letzten Sushi verschluckt.
»Wie kommst du denn auf so was«, fragt er.
»Weil es dramaturgisch kaum noch zu toppen ist«, sage ich. »Absturz, große Liebe, Entzug, Hochzeit, Familienglück. Ich meine das ernst. Ihr seht so aus, als wäret ihr genau dort angekommen, wo ihr hinwolltet.«
»Und außerdem sind wir noch reich und schön«, sagt Marek. »Warum erzählst du mir das, Mila?«
»Ich will das auch«, sage ich.
»Aber nicht wirklich«, sagt Marek und türmt die leeren Aluminiumschalen übereinander. »Du und Familienglück, das passt nicht zusammen. Du bist eine einsame Kriegerin.«
Mir gefällt nicht, was er da sagt. »Soll das heißen, du traust mir keine Beziehung zu?«
»Ich höre zum ersten Mal in meinem Leben, dass du überhaupt eine willst.«
»Vielleicht musste ich erst mal den ganzen Müll beiseiteräumen, den Klaus und Alicja hinterlassen haben.«
»Sie haben dir einen Haufen Geld hinterlassen. Den du übrigens gern angenommen hast.«
»Ich rede von etwas anderem.«
»Sind wir jetzt wieder bei der ultimativen Kränkung angekommen, oder was?« Mareks unvermittelte Wutausbrüche gehören zu den Dingen, die ich in den letzten Jahren nicht vermisst habe. »Oh Mann, Mila, ja das war alles furchtbar tragisch, aber bei dir musste diese Tragödie für alles herhalten. Du warst kein Kind mehr, als das passiert ist, sondern schon achtundzwanzig. Ob die Geschichte nun Sinn ergibt oder nicht, in dem Alter macht einem so was das eigene Leben nicht mehr kaputt. Du hast deins schon vorher nicht auf der Reihe gehabt, gib’s doch zu.«
»Nein, hatte ich nicht. Ich war nicht so gut im Verdrängen wie du.«
»Schon mal Kindheitserinnerungen mit jemandem ausgetauscht, der von seiner Familie missbraucht oder geschlagen wurde, Mila? Nein? Ich könnte dir sonst ein paar Kontakte vermitteln.
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