Die einen sagen Liebe, die anderen sagen nichts: Roman (German Edition)
lauter. Ich bleibe in der Tür stehen. Helmuts letzten Satz habe ich nicht verstehen können, aber dafür höre ich Marek klar und deutlich antworten, der nach einem kurzen Seitenblick auf mich unbefangen weiterredet.
»Wieso denn neurotisch? Wenn man noch nicht mal weiß, unter welchem beschissenen Korallenriff man seine eigenen Eltern finden kann, dann will man eben die Koordinaten von Menschen haben, die einem wichtig sind. Also ich hab kein Problem damit, das zu verstehen. Ich hätte dich auch überall gesucht, selbst wenn’s nur um deine Leiche gegangen wäre.«
Ich gehe durchs Zimmer und greife nach meiner Tasche, die halb unter den Kuhsessel gerutscht ist. Ich merke an ihrem Schweigen, dass die beiden jetzt wohl eine Art Stellungnahme von mir erwarten, wo ich schon mal da bin, aber ich winke nur mit der freien Hand, ohne jemanden anzusehen, und verschwinde wieder nach oben.
Die Frage, die Marek gerade beantwortet hat, stelle ich mir schon seit zwei Tagen, und Mareks Antwort gefällt mir kein bisschen, obwohl sie so lachhaft naheliegt. Vielleicht sollte ich ihn zu meiner letzten Staffel bei Irene einladen, damit wir’s zusammen noch mal so richtig krachen lassen können, wir Königskindeskinder. Ich schaffe nur noch ein paar Seiten aus meinem Buch. Dann mache ich das Licht aus in dem Wissen, dass mein Vater heute Nacht garantiert wieder seinen nassen Trenchcoat bei mir liegen lässt, und ich frage mich, was er und Alicja wohl von der runden Lustwiese für die fröhlichen Gäste ihres Sohnes halten werden.
6.
Ich schlafe so viel wie schon seit Jahren nicht mehr. Wenn ich morgens aufwache, sind Marek und Helmut längst aufgebrochen, um ihre Muskeln zu trainieren, ihr Vermögen zu vergrößern oder Implantate in Kieferknochen zu schrauben. Sind wir zu dritt, was meistens beim Abendessen der Fall ist, handeln unsere Gespräche von Politik, HIV-Diagnostik oder dem Ende meiner Karriere als Backpiece-Designerin; Eltern- und Beziehungsthemen lassen wir außen vor. Das Haus ist still und leer, wenn ich am späten Vormittag nach unten komme, wo mir kleine Zettel den Weg zu besonderen Spezialitäten im Kühlschrank weisen oder mich über Vorhaben und Ankunftszeiten informieren. Auf dem Tisch liegt meistens eine Tageszeitung, die ich ignoriere. Sie denken, ich bin krank und brauche Ruhe, und wahrscheinlich haben sie recht damit.
Wenn ich nicht schlafe, lese ich in den Büchern, die ich mitgenommen habe, ich streiche mir Sätze an wie Ständig warten wir darauf, dass unser Leben im nächsten Moment endlich schöner, heller und besser wird, und begreifen nicht, dass es weder den nächsten noch den vergangenen Moment gibt, sondern nur diesen einen, und diesen, und diesen, nur um mich kurz darauf über dieses vereinnahmende »wir« aufzuregen, das so plump vertraulich daherkommt und mir suggeriert, hey, ich war auch mal so dumm wie du und alle anderen, aber jetzt weiß ich, wo’s langgeht. Seltsamerweise bleibe ich auf meinem großen, runden Bett von nächtlichen Diskussionen mit meinen Gespenstern verschont, als würde ein schützendes Magnetfeld oder ein schwuler Zauber darüberliegen. Nur in meinen Träumen treiben sie ihr buntes, sinn- und handlungsfreies Unwesen, meine Eltern tänzeln vorbei, Elli übergibt mir einen schokoladeverschmierten, heulenden Marek, Hannes und Irene sitzen schweigend auf dem roten Sofa, nur Simon lässt sich nicht blicken, sosehr ich mich auch im wachen Zustand mit ihm beschäftige, so groß meine Sehnsucht auch ist, so lange ich auch schlafe.
Mein Telefon habe ich noch in der ersten Nacht im runden Bett ganz abgeschaltet, nachdem mich sein Vibrationsalarm gegen vier Uhr früh geweckt hatte und ich mit glasigen Augen auf das Gerät starrte, das sich wie ein sterbendes Insekt auf der Tischplatte wand, innehielt, wieder ansetzte, einmal, zweimal, dreimal, viermal, dann war Schluss, und ich war müde genug, um das Wissen auszuhalten, dass es nicht Simon gewesen sein konnte, nie im Leben. Im Augenblick brauche ich kein Telefon. Ich lese oder ich liege auf dem Rücken und atme mir den Weg frei, bis ich wieder einschlafen kann. Ich atme mich durch Klaus und ich atme mich durch Alicja, durch Elli und Marek und durch zwei Großelternpaare, die mir beide, jedes auf seine Weise, fremd geblieben sind. Ich atme mich durch Freunde aus meiner Schulzeit, durch die wenigen Frauen, die meine Freundinnen waren, durch die Männer, mit denen ich geschlafen habe, und durch die Frauen, die mit den Männern
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