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Die eingeborene Tochter

Die eingeborene Tochter

Titel: Die eingeborene Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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getötet! Sie kam zu all meinen Geburtstagsparties, und sie haben sie verbrannt!«
    »Raus!«
    Die Tränen flossen in ihren zitternden Mund. Normale, ganz profane Tränen, salzige Tränen, keine zornigen Säuren mehr, kein übernatürlicher Zucker. Wir weinen die Wasser eines Urozeans, hat Howard Lieberman gern erklärt. Ein starker Beweis für die biologische Evolution, sagte er immer. Sie taumelte aus Father Paradox’ Apartment, rannte durch die Kanalröhre, an der Kanzel vorbei, direkt in den tropfenden Bauch ihrer Kirche.

 
13. Kapitel
     
    Der Drang, Verbindung mit ihrer Mutter aufzunehmen, hatte Julie ganz plötzlich aus dem Hinterhalt wie ein listiger Räuber überfallen, wie ein Habicht, ein Hai oder Löwe; und sie war nicht froh darüber. Sie hatte genug von dieser grotesken Komödie vergeblicher Gebete, unerwiderter Schreie, von diesen Besetztzeichen, der Hinhalterei; genug von der mütterlichen Vernachlässigung, der Reserviertheit der Gottheit der Physik – genug von der Indifferenz der Differentialgleichung. Und doch stand sie nun an eine Straßenlampe in Longport gelehnt und bat den Himmel um Rat.
    Kann ich ihn retten, Mutter? Kann ich Bix retten? Antworte mir.
    In den gekräuselten Windungen der Milchstraße las Julie sein Schicksal. Noch ein Jahr predigen, zwei vielleicht, dann würden ihn die Ketzerjäger oder die Freischärler unausweichlich finden. Kein geruhsames Alter mehr, kein Predigtvorbereiten in stillen Nächten am Kamin. Seine öffentliche Verbrennung würde das sein, was einem Kamin noch am nächsten kam.
    Hüte dich vor den Sternen, hatte Howard sie immer gewarnt. Die Astrologie der Babylonier, die griechische Mythologie, die Kristallsphären des Aristoteles – die Sterne hatten schon mehr pure Scheiße verursacht als die ganze übrige Realität zusammengenommen. Und doch, mitten zwischen Orion und dem großen Wagen, am Himmel über Melanies Wohnung, sah sie – oder glaubte das jedenfalls – eine Konstellation, die nur für ihre Augen bestimmt war, ein stählernes Werkzeug, bereit, ihr einen Weg nach Amerika freizuschneiden.
    »Ich werd etwas unternehmen!« verkündete sie, als sie in Melanies von Bücherwänden gesäumtes Studio stürzte.
    Melanie schaute auf. Sie saß am Computer. Auf dem Bildschirm: ›Ralph und Amy und die Katholiken.‹ Sie grinste. »Ich wußte, du hilfst uns. Fängst du mit dem Holy Palace an?«
    »Ich brauch eine Drahtschere.«
    »Wirst du ihn Stein für Stein niederreißen?«
    »Hast du eine?«
    Melanies Aufregung legte sich. »Eine Drahtschere?«
    »Yeah.«
    »Nein.« Melanie runzelte die Stirn. »Warum?«
    »Um uns über den Delaware zu bringen, diesen Prediger und mich. Er ist mein Freund.«
    »Drahtscheren gibt’s vielleicht auf dem Schwarzmarkt.« Melanies Gesicht wurde zum Inbegriff des Verrats: das Kind, das zusehen muß, wie dem Nikolaus der Bart herunterfällt, die Braut, die ihren Mann mit der Freundin im Bett erwischt. »Wenn du wirklich eine brauchst.«
    »Ich brauch sie.«
    Im Fernsehen begann das Montagabend Auto-da-Fé. Ein Mann im roten Frack und weißen Zylinder hatte eben einen jungen Burschen über einen sandbedeckten Platz eskortiert und kettete ihn nun an einen Holzpfahl. Im off die heitere Kommentatorstimme: »Ein milder Abend hier mitten in New Jerusalem, eine leichte Brise von der See her.«
    Melanie lächelte plötzlich. »Du gehst wirklich nach Amerika?« Sie nahm eine uralte Postkarte vom Schreibtisch. »Schau, was heute mit der Post gekommen ist.«
    Unter der Überschrift GRÜSSE AUS ATLANTIC CITY bildeten drei Fotos ein frivoles Tryptichon: Badeschönheiten, die in der Brandung herumtollten, Rex, der Wunderhund, auf seinem Surfbrett, ein Pferd, das eben einen Kopfsprung ins Wasser machte. Julie drehte die Karte um. Amerikanische Marken. Poststempel aus Philadelphia. »Melanie Markson«, las Julie laut vor, »Longport, New Jersey.« Krakelige Schrift. »Liebe Melanie! Wie geht’s dir? Könntest du bitte…« – dann nur noch Balken schwarzer Tinte bis: »… deine dich liebende Phoebe.«
    »Die Zensur«, erklärte Melanie. Julie faltete die Karte, wobei sie den Wunderhund halbierte, wie Billy Milk einst Marcus Bass halbiert hatte, und steckte sie in die Tasche ihrer geliehenen Jeans. Deine dich liebende Phoebe. Phoebe! In Philadelphia! »Willst du mitkommen?«
    »Denk bitte nicht schlecht von mir.« Melanie trommelte mit ihren makellos glänzenden Fingernägeln auf den Bildschirm. »Also, wenn du so wärst wie früher, ein

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