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Die eingeborene Tochter

Die eingeborene Tochter

Titel: Die eingeborene Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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auf der Jersey-Seite des Delaware, ein dichter, dorniger Metalldschungel – genau wie der schäbige Garten Eden, den Milk darunter kultivierte.
    Sie ließen die Brücke links liegen, nahmen die Mickle Boulevard-Ausfahrt und bogen nach Osten ab in das finstere Ruinenherz der City. Glassplitter pflasterten die Straßen. Überall sproß Löwenzahn, eroberte die leeren Plätze, zerstörte die Gehsteige. Melanie fuhr an den Straßenrand und parkte den BMW zwischen zwei verbogenen Parkuhren mit zerbrochenen Sichtfenstern.
    »Sag ihnen nicht, wer ich bin.«
    Auf dem Weg zur Front Street-Kreuzung klammerte sich Julie an Melanies Spitzenärmel. »Ich sag es ihnen selbst, wenn ich bereit dazu bin.« Sie hielten vor einem alten Saloon, der ›Irish Tavern‹; wie eine Krypta, alle Fenster mit Brettern vernagelt, an der Tür ein ganzes Büschel Vorhängeschlösser. Auf der zerbrochenen Neonreklame: Kaltes Bier. Melanie öffnete ein Holztor gleich daneben, dahinter ein abfallübersäter Durchgang.
    »Versprich mir, daß du nichts sagst!« drängte Julie.
    »Versprochen«, murmelte Melanie. Sie klopfte an eine nietenbedeckte eiserne Hintertür, rief mit durchdringender Flüsterstimme: »Moon rising!« Hinter dem rautenförmigen Türfensterchen flackerten nervöse Augen, Sekunden später öffnete sich die Tür. Eine junge Frau in bauschigem weißen Kleid, mit Borten und Rüschen besetzt. Sie war bemerkenswert dünn, eine Art inverse Fruchtbarkeitspuppe. »Moon rising.«
    Melanie lächelte Julie ängstlich an. »Moon rising«, sagte Julie und schritt vorsichtig in die Dunkelheit.
    Die dünne Frau führte sie durch den finsteren Saloon. Abgestandene Luft, die Möbel wie Leichen, die auf die Autopsie warten, mit Laken verhüllt. Sie stiegen die Kellertreppe hinab, dann die Treppe zum Subkeller, landeten schließlich in einem höhlenartigen Raum. Auf den bogenförmigen Ziegelwänden ein Wirrwarr von Röhren und Kabeln; Julie stellte sich vor, wie die Stadt sich über dieses Netzwerk ihrer geheimen Ströme entledigte – des vergifteten Blutes, der unreinen Gedanken. Ein übelriechender Bach gluckerte über den Boden. Darüber hölzerne Planken, auf denen die Unbestimmtheitler ein halbes Dutzend Kirchenstühle aufgestellt hatten. Ein paar Sessel, Kanzel und Altar. Melanie setzte sich auf einen freien Stuhl im Hintergrund, Julie daneben. Messingkerzenleuchter in der Form eines Leuchtturms säumten den Altar; dicke weiße Kerzen. Hinter dem Altar auf einem Transparent Heisenbergs Unbestimmtheitsrelation Delta x Delta p >= h/2Pi . Aus einem Gestell direkt vor ihr schauten zwei übergroße Paperbacks heraus, die weißen Cover mit altenglischer Schrift verziert. Das eine war das ›Gesangbuch‹. Julie schlug das andere auf, ›Wort Sheilas‹. Auf jeder Seite eine ›Der Himmel hilft‹-Kolumne. Sie entdeckte zufällig eine der wenigen Kolumnen, die Tante Georgina gefallen hatten – Sheila gibt einer Hexenversammlung in Palo Alto Steuertips.
    O Georgina, Georgina, warum mußtest du nur sterben?
    Die dürre Unbestimmtheitlerin, die sie begrüßt hatte, ging leise zum Altar, drehte sich um und wandte sich an die Ketzer. »Nummer Einunddreißig.« Die Versammlung, ein rundes Hundert schick gekleideter Männer und Frauen, kippte wie ein Haufen Buspassagiere bei plötzlichem Halt nach vorn und griffen zu ihren Gesangbüchern. Das Ganze a capella, was entweder am herrschenden Purismus lag, dachte Julie, oder an den Schwierigkeiten, eine Orgel in die Kanalisation von Camden runterzuschaffen.
     
She came to place uncertainty
    And Science on our shelf.
    She taught us to doubt everything
    And seek her sacred self.
     
    While every truth is putative
    And every faith a lie,
    We know she’ll let us praise her name
    And love her till we die.
     
    Bis zum Refrain – »Despite the fact belief’s absurd, we’ll follow you, just give the word« – hatte sich ein unkontrollierbares Zittern Julies bemächtigt; und es hielt die ganze Nummer Siebzehn – »Her Daughter’s Growing Under Glass« – hindurch an.
    Mit langgezogenem »Ahhhhhh – mennnnnn«, machten die Ketzer die Gesangbücher zu. In einem Seitenkanal beim Altar erschien der Prediger. »Father Paradox«, erklärte Melanie.
    Der Mann war dick. Zuerst tauchte sein Bauch als Vorhut der Körpermasse auf, dann mächtige Schultern und ein Doppelkinn. Die weiße Soutane lag auf ihm wie die Persenning auf einem Luftschiff. Liebe Mutter im Himmel, süßer Bruder in der Hölle: Er! Bärtig, älter,

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