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Die eingeborene Tochter

Die eingeborene Tochter

Titel: Die eingeborene Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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wenigstens den New Jerusalem Highway schmücken.
    Unter den vielen Köpfen in diesem Mob tauchte nun einer auf, der die Leitung übernehmen würde. Ein Cherub im blauen Blazer. Sah aus wie eine verkleinerte Version von Bix, weich, rundlich, eine Art… strammer Buddha? Richtig: Nick Shiner war das, der mißmutige Trucker. Vor vier Tagen war Julie mit ihm gefahren.
    »Father Paradox!« schrie er.
    »Ich bin Father Paradox«, gab Bix zu.
    »Father Paradox – liebst du die Kirche der Offenbarung?«
    Bix blinzelte krampfhaft. Er kratzte sich die bleiche Brust unter dem Bademantel. »Ich liebe Sheila of the Moon«, sagte er schließlich.
    Unwilliges Murren in der Menge, aber für Julie klang das Bekenntnis wundervoll halbherzig. Eine sehr zweifelhafte Hingabe an Sheila!
    Shiner bohrte weiter. »Nimmst du die Lehren der Offenbarungskirche an?«
    Bix schien nachzudenken. Dann zögernd: »Ich bekenne mich zum Königreich der Unbeständigkeit.«
    Ja, sein Glaube war zu erschüttern, das spürte Julie, seine geistige Gesundheit noch zu retten. Sie wußte es.
    Nick Shiner nahm einen dicken Ziegelbrocken auf. Die anderen wappneten sich begeistert mit Ziegeln, Steinen, Sodawasserflaschen, Bleirohren, Schlackebrocken. Wie Bauern bei der Kartoffelernte. Ein geheimnisvoller Augenblick, wie eine verbotene Frucht. Solche Ereignisse sah man im Kino, las davon in Geschichtsbüchern – aber selber war man nie dabei.
    »Sag uns, daß du die Wahrheit bekennst«, forderte Nick Shiner, massierte den Ziegelbrocken, als wolle er einen Schneeball formen. Julie umklammerte den Griff der Drahtschere. Die Steinigung würde furchtbar werden; da gab es ja so viel überflüssiges Fleisch an ihm wegzuhacken, einen besonders massigen Schädel zu zerschmettern.
    »Ich bekenne mich zum Bund der Unbestimmtheit«, sagte Bix.
    Julie wußte nicht, woher die Kraft kam, sie folgte einfach einem Instinkt, marschierte auf die rosa Wand zu. Was war das, Mut? Mut heißt: das Abnorme tun, das einen plötzlich überkommt, hatte Tante Georgina immer gesagt.
    »He, du da!« rief jemand.
    »Halt!«
    »Weg da!«
    »Weg!«
    Sie küßte Bix. Nasser Kuß mitten auf die Lippen, einer von Phoebes Wassermelonenküssen. Er schaute sie aus trüben Augen an. Sein Verstand schien unter einer Eisfläche zu liegen, ein im Eis eingeschlossenes Mammut, aber nun kam eine wärmere Epoche, ihre Lippen aus dem Miozän. Sie küßte ihn wieder. Wie konnte sie nur diese Riesennase lieben, sein Doppelkinn, die sechzig Pfund Übergewicht? Sie liebte ihn.
    »He, ich kenn Sie doch!« rief Nick Shiner hinter ihr.
    Julies Herz schlug wie verrückt gegen das Brustbein. Hau ab, sie werden dich töten! Lauf!
    »Ich hab Sie letzte Woche doch gefahren«, sagte Nick Shiner. »Nehmen Sie einen Ziegel, Lady! Gibt ja hier genug davon.«
    Noch ein Kuß. Ja, das war die richtige Behandlung; ihre Miozän-Lippen würden ihm den Nebel vom Verstand saugen.
    »Wir küssen solche Leute nicht, Lady. Die haben Sie doch überfallen! Was sollen die Küsse?«
    Abhauen? Wegrennen? Nein, sie war jetzt frei, keine unermeßliche Macht drückte sie mehr nieder. Sie fixierte Nick Shiner, bückte sich und hob einen Zementbrocken auf. Absurdes Ungleichgewicht der Kräfte: es kam ihr plötzlich komisch vor; entsetzlich und komisch zugleich. Auf der einen Seite der Mob, bis an die Zähne mit Ziegeln, Steinen, Glas und Metall bewaffnet. Und auf der anderen Seite nur Julie Katz. Mit dem besten Spruch ihres Bruders. Welche Quelle sollte sie zitieren? King James-Ausgabe? Revidierte Standardausgabe? Douay? Sie entschied sich für die Version Max von Sydows in einem von Georginas Lieblingsfilmen ›Die größte Geschichte aller Zeiten‹.
    »›Laßt den unter euch, der ohne Sünde ist‹« – Julie bot ihnen den Betonbrocken mit ausgestrecktem Arm an –, »›den ersten Stein werfen.‹«
    Nick Shiner sagte: »Huh?«
    Julie hob die Stimme: »›Laßt den unter euch, der ohne Sünde ist, den ersten Stein werfen.‹«
    »Was?«
    »Hier, Shiner. Nimm!«
    Er starrte sie finster an. Fast konnte sie das Feuern eingerosteter Neuronen in seinem Hirn hören, stellte sich dabei einen schwer zurückgebliebenen Jungen vor, der ohne die geringste Ahnung vom Geschlechtsakt eines Tages den Playboy zu Gesicht kriegt. Und dann: ein Ständer. So war es bei Shiner – eine Reaktion, eine moralische Erektion. Sie hatte den Nerv getroffen.
    »Nun?« setzte sie nach. »Bist du ohne Sünde?«
    Shiner wich einen Schritt zurück. Ein kleiner Schritt

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