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Die eingeborene Tochter

Die eingeborene Tochter

Titel: Die eingeborene Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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göttliches Wesen und so, wär ich natürlich die erste, die mitmacht.« Der Mann im Zylinder hatte dem Gefangenen nun einen schwarzen Sack über den Kopf gezogen. Die Kamera schwenkte auf ein Dutzend Harlekins mit halbautomatischen Gewehren. »Darf ich dir einen Rat geben, Sheila? Wenn du diese Kräfte nicht mehr hast, dann bist du verrückt, wenn du versuchst, über den Delaware zu kommen, wirklich verrückt.« Sie wies auf den Bildschirm. »Für so was werden Leute erschossen.«
     
    Andrew Wyvern spreizte seine großen, ledrigen Flughäute über dem geschäftigen Höllenhafen und flog an einem Kran vorbei, der eben einen Container mit Neuankömmlingen von der prächtigen Barkasse John Mitchell abhob und auf dem Dock absetzte. Er erwog ernsthaft, nach Carcinoma zurückzukehren und einen geruhsamen Nachmittag mit der Heimsuchung seiner Tomatenpflanzen mit Blattläusen und Japankäfern zu verbringen, landete dann aber doch auf dem Vorderdeck der Pain.
    »Wohin?« Anthrax salutierte steif.
    Eine kleine Wolke der Depression zog sich über dem Teufelshaupt zusammen. »New Jersey. Die Republik der Gläubigen.« Er fand Trost in der Aufzählung all seiner Segnungen: Zunehmende Geschlechtskrankheiten, steigende Umweltverschmutzung, blühender Totalitarismus, der Zirkus der Freude ständig ausverkauft. Und das Beste: Die Kirche der Julie Katz ein voller Erfolg, eine Quelle sinnlosen Märtyrertums.
    Nicht gut. Schwarz und lauernd kehrte die Depression zurück.
    »Hab ich dir je erzählt, was das Universum ist, Anthrax?«
    »Nein, Sir.«
    »Das Universum«, sagte Wyvern, »ist eine Dissertation in Philosophie, die Gott nicht erfolgreich verteidigen konnte.«
    Anthrax bohrte in der Nase und spießte einen zusammengerollten Rüsselkäfer auf seine Klaue. »Haben Sie nicht genug von New Jersey, Sir? Könnten wir nicht in den Mittleren Osten? Ich hab noch nie die Pyramiden gesehen.«
    »Sind wir seeklar?«
    »Seeklar – jawohl, Sir.« Anthrax steckte den aufgespeilerten Rüsselkäfer ins Maul. »Auslaufen?«
    »Auslaufen.«
    »Kurs – Nordamerika?«
    »Kurs – Nordamerika.«
    »Warum New Jersey?« fragte Anthrax.
    Wyvern zog eine so fürchterliche Grimasse, daß die Wolke übers seinem Kopf Regentropfen spuckte. »Weil die kleine Fotze immer noch glaubt, sie hat gewisse Kräfte.«
     
    Sie dachte: Das Herz ist eine Pumpe. Eine Pumpe und… ein Prophet. Keine Frage. Je näher das Taxi der Irischen Taverne kam, desto lauter wurden die Warnungen und bösen Vorzeichen in ihrem Herzschlag. »Gib Gas!« Sie sicherte die Drahtschere am Gürtel wie Königin Zenobia ihr Schwert und schob dem Fahrer eine Fünf-Mammon-Note zu. »Den Rest können Sie behalten.«
    Melanie hatte die Expedition großzügig mit einer Rindslederjacke und einem Paar Hosen unterstützt und die Schwarzmarkt-Drahtschere bezahlt – das furchterregende Werkzeug erinnerte an Wyverns Baumschere; Gummihandgriffe und gezackte Klingen. Und eine Brieftasche hatte sie ihr auch gegeben – 600 Dollar für den Fall, daß sie es nach Amerika schaffte. Und 150 Mammons, wenn sie es nicht schaffte.
    Als Julie die Front Street hinunterrannte, stieg ihr die Magensäure bis in die Speiseröhre, ihre Pulse jagten.
    Der Mob war einträchtig, mit Herz und Hand, auf ein einziges Ziel konzentriert: Father Paradox zu entführen. Julie ließ sich von einem Dutzend Apokalyptiker überholen, die ihre Mittagspause der Rache opferten. Sie machten einen Höllenlärm. Jubelrufe, schrilles Gepfeife und Geschrei.
    Bix trug Mokassins und einen weißen Bademantel mit einem Leuchtturm auf der Brust. Die eingesunkenen Augen blickten trübe, sehnten sich nach der Zweistärkenbrille. Julie mischte sich unter den Mob, mehrheitlich glatthaarige Anzugtypen, die vielleicht Gebrauchtwagen und billige Teppiche verkauften, wenn sie nicht gerade Camden von der Ketzerei säuberten. Vier elegante Damen; Immobilienmaklerinnen, dachte Julie.
    Die Wächter brachten Bix auf eine freie Fläche in einer Baulücke. Glasscherben, Ziegelbrocken, ausgeschlachtete Autowracks ragten aus dem Schutt. An der Westseite die Hinterfront einer Eisenwarenhandlung. Die Freischärler drängten ihren Fang an die rosa Stuckmauer. Bix lächelte nicht mehr. Er schwitzte in der Mittagssonne. Angst? Wer hätte da keine Angst? Julie spürte, unter der Angst war noch etwas: Enttäuschung.
    Wenn ich schon sterben muß, dann wenigstens im Zirkus, nicht durch diese Amateure. Dann schon im Montagabend Auto-da-Fé, dann laßt meine Knochen

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