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Die eingeborene Tochter

Die eingeborene Tochter

Titel: Die eingeborene Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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nur, nichts, worauf man sich länger verlassen konnte, aber doch ein Schritt zurück.
    »Darum geht’s nicht, Lady«, sagte er ärgerlich, »es geht doch…«
    »Sheila! Sheila!«
    Julie wirbelte herum. Bix keuchte. Aufgerissene Lemurenaugen.
    »Meine süße Sheila!« schrie er. »Meine süße Sheila of the Moon!«
    »Nicht Sheila, Liebling.« Sie faßte seine Hand. »Nur Julie.«
    »Er hat dich Sheila genannt!« rief Shiner anklagend. »Sheila of the Moon hat er dich genannt!«
    »Los, gehen wir!« schrie Julie.
    »Gehen?« sagte Bix.
    »Über den Delaware!«
    Shiners Jammerstimme: »Er hat sie Sheila genannt! Das ist sie!«
    Sie humpelten über den Platz. Bix stöhnte. Die scharfen Glassplitter schnitten in die Mokassins. Noch ehe Julie und Bix die Front Street erreichten, setzte sich Shiners Bande in Bewegung, drängte sich in den Eingang der Irish Tavern und dann in die Kanäle.
    »Nicht Sheila?« fragte Bix.
    »Julie. Dein alter Kumpel Julie. Kein göttliches Wesen mehr. Hab ich aufgegeben.«
    Durch das Tunnelgewirr hatten sie einen Vorsprung. Eine Gnadenfrist – wie vorher durch die berühmte Bibelstelle. Überall Echos vom Getrampel der Wächter, aber keine Ziegel, Flaschen und Schlackebrocken. Bix ging nun voran. Er wählte eine Route, die sie direkt zum Fluß hinunterbringen würde. Julie spürte Hitze, Nässe. Infernalischer Gestank, und… Glut? Ja, tröstliches inneres Glühen.
    Sie hielten sich fest an den Händen. Das innere Glühen wurde stärker. Eine sich öffnende Iris – zuerst nur ein Nadelstich, dann ein Loch, dann ein breiter Strom aus Licht.
    »Kannst du das verschwinden lassen?« fragte Bix. Sie standen vor einem Stacheldrahtverhau. Sah aus wie ein Forsythienstrauch.
    »Keine Kräfte mehr, Bix. Ich hab das nicht nur so gesagt.« Julie zog die Drahtschere. »Dafür hab ich das da.«
    Sie schnitt wie verrückt ins Drahtgewirr. Der Stacheldraht zerriß Hosen und Rindslederjacke, stach in die Schenkel. Sie kam sich wie ein Baby vor, das sich den Weg in die Welt selber freischneidet. Kaiserschnitt von innen. Der Fluß tauchte auf. Ein möwenumschwärmter Müllkahn tuckerte südwärts Richtung See. Julie kroch ans Tageslicht. Zehn, vielleicht zwölf Fuß senkrecht runter. Ein Philadelphia-Polizeiboot glitt lautlos unter Brigantine Bridge hindurch.
    »Wir müssen da runter!« Julie wies auf den Strom, der träge und dunkel schäumend wie geronnenes Pepsi dahinfloß.
    »Das ist doch verrückt.« Bix tauchte neben ihr auf. Ein Ziegel verfehlte knapp ihre Stirn. Sie drehte sich um. Steine prallten von den zylindrischen Wänden ab. Eine halbvolle Ketchup-Flasche segelte über den zerschnittenen Drahtverhau und explodierte wie eine Blutbombe vor Bix’ Füßen.
    »Kannst du es nicht… äh… teilen?«
    »Au!« Ein Ziegelbrocken direkt auf ihr Knie. »Scheiße!«
    Sie schloß die Augen, packte Bix am Bademantelgürtel und sprang. Sie klammerten sich im freien Fall fest aneinander, klatschten in den Fluß. Der Delaware verschlang sie. Tiefer und tiefer tauchten sie hinab, Schlammtaufe, das Wasser wurde immer kälter, dichter und dreckiger. Herrliche Senkgrube, dachte sie, Quelle avantgardistischer Krankheiten und hochmoderner Karzinogene, Freischärler würden ihnen hierher nicht folgen. Sie packte Bix und brachte ihn an die Oberfläche. Der Müllkahn kam in einer Wolke flatternder und kreischender Möwen auf sie zu. »Dort rüber!« Welche Macht auch immer den Kahn geschickt hatte, Gott oder die Heisenbergsche Unschärferelation; er hatte an alles gedacht, auch an ein Haltetau, das vom Heck ins Wasser herabhing. »Los jetzt!«
    Nach einer Minute wahnsinnigen Geplansches war das Tau in Reichweite. Zuerst Bix. Mit einer für ihn völlig untypischen fiebrigen Behendigkeit kletterte er auf den Schiffsrumpf. Sie ließen sich über die Reling fallen und taumelten in den gottgesegneten Matsch.
    »Schau, Honey.« Julie spuckte Delaware-Wasser. Brennende Nägel in der Kniescheibe. Sie zog Melanies Brieftasche heraus. »Sechshundert Dollar.« Sie nahm eine Hunderternote. Sie war durchnäßt, aber sonst in Ordnung. »Verhungern werden wir nicht.«
    Bix nieste. »Wie wär’s mit ’ner Pizza heut abend?«
    »Einverstanden.« Sie krochen aufeinander zu, kämpften sich durch Müllhaufen und stinkende Schwaden. Dann umarmten sie sich leidenschaftlich, tanzten umeinander auf einem Kaffeesatzstrand. »Und morgen in den Zoo!«
    »Und übermorgen wird geheiratet!«
    »Geheiratet?«
    »Meine Eltern waren verheiratet«,

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