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Die eingeborene Tochter

Die eingeborene Tochter

Titel: Die eingeborene Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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gebunden: offensichtlich ein Papist, daher auch die typische Züchtigung für Papisten, die des heiligen Sebastian. Ein Dutzend Männer in karogemusterten Harlekinkostümen spannten ihre Bögen.
    Die Leute hatten ganz falsche Vorstellungen über die Inquisition, dachte Billy. Im Wortsinn war Inquisition bloß eine Befragung. Die Aufgabe der Gerichtshöfe lag doch darin, die Schafe der Herde zuzuführen, nicht der Schlachtbank; Folter und Zirkus waren nur allerletzte Überredungsmittel. Sogar die Auto-da-Fés spanischer Tradition, die umstrittenste von Billys Eingebungen, hatten kaum dreitausend Leute verbrannt, ein Nichts im Vergleich mit dem Ausstoß der weltlichen Gerichte, ihrer Gaskammern und Elektrischen Stühle.
    Billy ging zum Schreibtisch und öffnete den ersten Akt auf dem Stapel. Sein Auge überflog das Plädoyer (nicht schuldig) und das durch Indizien begründete Urteil (schuldig). »Der Angeklagte, ein gewisser ›Bruder Zeta‹ wurde bei der Abhaltung eines Gottesdienstes der ›Unbestimmtheitssekte‹ in einer aufgelassenen U-Bahn-Station in Hoboken festgenommen«, hatte Harry Phelps, vormaliger Zahnorthopäde aus Cape May und gegenwärtiger Generalinquisitor geschrieben.
    Billy nahm die Füllfeder. Die Hand, die nun den Exekutionsbefehl unterschrieb, war weiß und runzlig, die Venen traten wie blaue Schnüre hervor. So viele Jahre hatten sich in dieser Hand abgezeichnet. Was hatte sie wirklich vermocht? Eine Republik der Gläubigen, ein New Jerusalem, schön und gut. Aber Gott hatte Billy zum Vater gemacht, und als Vater hatte er versagt. Gott hatte ihn zum Pförtner für Jesus ausersehen, und darin hatte er auch versagt.
    Billys Kommandant betrat den Raum. Er keuchte noch vom Laufschritt, sein Lächeln kündete gute Nachricht an. Ein Musterexemplar von einem Gläubigen, dieser Peter Scortia, die Art Soldat, die ein Jahrtausend früher das Heilige Land aus den Händen der Ungläubigen hätte befreien können. Schwer vorstellbar, daß er früher ›Scortia’s Blitzreinigung‹ in Teaneck geleitet hatte.
    Gute Nachricht also. Oder sogar… die beste Nachricht, die Wiederkunft Christi? Eher bezog sie sich auf den Fremden neben Scortia, einen engelhaften Mann in braunen Cordhosen und blauem Blazer.
    »Er arbeitet für uns«, erklärte Peter. »Bringt uns Sünder von außerhalb. Er heißt Nick.«
    »Nick Shiner«, sagte der Cherub. »Eine große Ehre für mich, Reverend… Ich meine, daß ich hier bin, ist die Ehre, nicht das Ketzerfangen.«
    Billy richtete seinen einäugigen Blick fest auf Peter. Wenn man nämlich Leute von Shiners sozialer Stellung direkt ansah, nutzten sie oft die Gelegenheit, ihre Meinung über Steuern und Brotschlangen darzutun. »Ist Mr. Shiner unglücklich mit seiner Situation?«
    »Deswegen ist er nicht hier«, sagte Peter.
    »Nun… gegen ein paar gelegentliche Freikarten hätte ich nichts einzuwenden«, sagte der Trucker.
    »Er hat jemanden gesehen«, sagte Peter. »In Camden.«
    »Ich bin sicher, daß sie’s war«, meinte Nick Shiner. »Ich erinnere mich gut an ihr Foto bei der Kolumne. Sieht jetzt natürlich älter aus, aber sie ist es, kein Zweifel.«
    »Wovon redet Mr. Shiner eigentlich?« Billy konzentrierte sich auf das Verdienstkreuz, das Peter Scortia für die Auslöschung einer Sodomitenfamilie in East Orange bekommen hatte.
    »Sheila of the Moon«, sagte Peter.
    »Sheila of the Moon«, bestätigte Nick Shiner.
    Unwillkürlich richtete Billy beide Augen, das wirkliche und das Phantomauge, auf den Besucher. »Sie?«
    »Ja, sie.«
    »In Camden?«
    »Sie küßt also diesen dicken Kerl, und er zeigt auf sie und schreit: ›Sheila of the Moon!‹ Dann sind die beiden in einem Müllkahn nach Philadelphia geflüchtet.«
    »In einem Müllkahn?«
    »Könnte mir vorstellen, daß da ’ne tiefere Bedeutung drinliegt.«
    »Und er hat wirklich ›Sheila of the Moon‹ zu ihr gesagt?«
    »Hat er gesagt.«
    Feuer. Billy sah Feuer. Er rieb die Augenklappe. Nicht die Flammen des Zirkus, auch nicht das Feuer darunter. Heiliges Feuer tobte in seinem Kopf, brennender Dornbusch in seiner Seele; die heißen Wurzeln ins weiche Gewebe seines Gehirns versenkt. Und im Mittelpunkt: ein Gesicht – ihr Gesicht. Sheila of the Moon, das Tier 666; ihre üppigen, lüsternen Glieder, Brüste mit Augen anstelle der Brustwarzen. Alles war nun offenbar. Der Antichrist hatte seine Herrschaft angetreten. Vielleicht hatte sie die Erde verlassen, wie ihre Anhänger glaubten, aber nun war sie zurückgekommen,

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