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Die eingeborene Tochter

Die eingeborene Tochter

Titel: Die eingeborene Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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sagte Bix. »Ich glaube wirklich, ihr Leben war dadurch weniger schrecklich.«
    Sie entspannte sich langsam, genoß den prickelnden, lebendigen Augenblick, den schwelenden Abfall, den murmelnden Fluß, die aufgeregten Möwen – und häusliche Phantasien. Ein Baby kam ihr in den Sinn, wie es sich zufrieden an ihre Brust schmiegte, Milchtropfen am rosenknospigen Mäulchen – und über all dem das Stampfen des Müllschiffs, das sie zur Philadelphia-Marinewerft und in die Freiheit trug.
     
    Reverend Billy Milk – Bürgermeister von New Jerusalem, Großpastor der Kirche der Offenbarung, Executive Producer des Zirkus der Freude und Vorsitzender der New Jersey Inquisition – schlurfte mißmutig auf den Westbalkon am Heiligen Palast und blickte auf die Stadt zu seinen Füßen. Die Sonne, reflektiert von den blendend hellen Wänden der hochaufragenden Gebäude, brannte heiß in seinem Auge, aber wie immer lag die Wahrheit im Phantomauge, und dort hatte sich teuflischer Frost über die Stadt gesenkt, die zwölf Tore mit Eis überzogen, den heiligen Fluß gefrieren und den Baum des Lebens verdorren lassen.
    Ungnade, grollte der Ozean. Schmach, höhnte der Wind. Warteschlangen bei Benzin, Brot, Kohle, Trockenmilch, und dann, wenn man endlich an der Spitze der Schlange war, Inflation. In Billy Milks Republik brauchte man einen Sack Scheine, um einen Sack Mehl zu kaufen. Ungnade, Schmach. Das Verminen der Rantan-Bucht und die Überwachung des Hudson River kostete der Trenton Junta fünfundachtzigtausend Mammons am Tag, eine Rechnung, die der amerikanische Kongreß nicht länger begleichen wollte. Ungnade, Schmach, Inflation, Schulden, und, was das schlimmste war, keine Wiederkunft Christi. Ja, der Zirkus lenkte die Leute vom allgemeinen Mangel ab, aber was hieß das schon, wenn das eigentliche Ziel unerreicht blieb? Billy biß sich in die Wange. Er hatte den Schmerz verdient. Blut lief über die Zähne. Wie viele Sünder mußte der Zirkus bis zur Parousia noch verarbeiten? Wie viele mußten noch von den Flammen geläutert, von den Geschossen gezüchtigt, den Pfeilen verschlungen, den Schwertern verzehrt werden?
    Dann war da noch sein Sohn, Erzhirte Timothy: fromm, helläugig, gottesfürchtig – und noch etwas, das schwer zu benennen war. Inbrunst war etwas Schönes, Göttliches, und doch… »Unser Heiland wird nicht kommen, bis die Menschen nicht das Leiden kennengelernt haben.« Darauf beharrte Timothy, wenn er wieder einmal eine Kerzenflamme mit der flachen Hand ausdrückte. »Einem Erzhirten darf Buße nichts Fremdes sein«, erklärte er und schob sich Hutnadeln unter die Fingernägel oder füllte sich Glassplitter in die Schuhe.
    Eine Träne kullerte über Billys zerfurchtes Gesicht. Gott nimmt dir die Frau und schenkt dir einen Sohn. Und du tust dein Bestes – jeden zweiten Freitag zum Windeldienst, endlose Stunden im Supermarkt, um Similac und Gerber Strained Sweet Potatoes einzukaufen – und Meßlöffelchen zum Einflößen von Antibiotika gegen Mittelohrentzündung; tausend Ausflüge auf Spielplätze, Tageskinderstätten und in fremde Häuser, wo Timothy mit irgendeinem Jungen spielen konnte, dessen Namen du längst vergessen hast. Da organisierst du ganz allein die Party zum vierten Geburtstag. Die Hälfte der Kinder blind wie Timothy; dennoch sind sie unheimlich geschickt bei diesem Spiel ›Steck den Schwanz ans Äffchen‹. Dann die Party zum fünften Geburtstag unter dem Motto: Komm als dein Lieblingsheld aus der Bibel. Dann die sechste, siebte, achte Party; insgesamt fast ein Dutzend. Das alles machst du – und es endet damit, daß im Kleiderschrank deines Sohnes Peitschen herumhängen, wie bei normalen Männern Gürtel und Krawatten. Kann das die wahre Bestimmung eines Kindes sein, dem einst ein Engel das Augenlicht gegeben hatte?
    Billys Blick schweifte über die Tomas de Torquemada Memorial Arena, ein großes, schüsselförmiges Amphitheater, alle Reihen mit faszinierten Zuschauern dicht besetzt. Über dem westlichen Tor stand breitbeinig eine fünfzig Fuß hohe Marmorstatue des göttlichen Johannes, der eben die Offenbarung empfing. In der linken Hand eine Schreibfeder, die rechte hielt eine Schriftrolle in die Höhe. Billys brillantem Architekten – der Enkel des Mannes, der das Stadion für die Giants gebaut hatte – war es gelungen, in diese Rolle einen reklametafelgroßen Fernsehmonitor einzubauen. Im Augenblick lief die Vormittagsvorstellung. Der Mann auf dem Monitor war an einen hölzernen Pfahl

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