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Die eingeborene Tochter

Die eingeborene Tochter

Titel: Die eingeborene Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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brachten sie aus dem Madison Memorial und manövrierten sie an der Market Street in die U-Bahn.
    »Liebe Sheila, ich bin eine lausige Hure!« Ihr Gebrüll übertönte ein ums anderemal das Kreischen und Rattern der U-Bahn. Wie Judäer, die einem Aussätzigen ausweichen, zogen sich die Passagiere so weit wie möglich zurück. »Ich hab Hunger! Ich hab mir grad die Eingeweide ausgekotzt! Gebt mir was zu essen!«
    Sie brachten sie zum ›Golden Wok‹ in Chinatown, wo Phoebe sie mit der Drohung, sich alle Kleider vom Leib zu reißen und ›eine Szene zu machen‹ soweit einschüchterte, daß sie ihr eine Flasche Pflaumenwein kauften. Die trank sie innerhalb von zehn Minuten aus, nahm dann ein Mooshu-Schweinefleisch-Omelett und schüttete den nächsten Aschenbecher hinein.
    »Phoebe, nein!«
    Aber schon stopfte sie sich den verdorbenen Pfannkuchen in den Mund. »Hm«, sagte sie und würgte das Zeug runter. Tabakasche auf den Lippen; mit der Zunge angelte sie nach einem abgelutschten Marlboro-Filter. Phoebe, die agnostische Aschenfresserin, falsche Büßerin auf dem Weg der Reue. »Hm, Hmm«, machte sie noch und klappte zusammen.
    Alle schauten her. Doch noch eine Szene.
    »Was jetzt?« fragte Bix.
    »Ich möchte sie nach Hause bringen«, sagte Julie. »Das heißt, ich will eigentlich nicht, aber…«
    »Verrückte Idee.«
    »Ich weiß. Hast du eine bessere?«
    Für die bescheidene Miete war ihr neo-viktorianisches Haus in Powelton Village erstaunlich groß. Boheme-Enklave am Westufer des Schuylkill, eine Welt ziegelgepflasterter Gehsteige, schläfriger Katzen und Garagen, in denen bärtige junge Männer Haufen zerbeulten Schrotts zu Kunstwerken zusammenschweißten. Die Wohnung war verfallen, sicher, wimmelte von Kakerlaken. Aber mehr als geräumig, es gab auch ein halbwegs bewohnbares Hinterzimmer. Sie kippten die bewußtlose Phoebe auf die Wohnzimmercouch und begannen sich aufs Schlimmste vorzubereiten. Sie nagelten Latten vors Fenster im Hinterzimmer, entfernten innen die Klinke und entfernten jeden Gegenstand, mit dem sie sich stechen oder strangulieren konnte – die Schnüre vom Schiebefenster, die Stehlampe. Julie wußte: Ein Krieg stand bevor. Sie mußten Schützengraben ausheben, sie mußten ihre Lenden gürten.
    »Sollen wir diesen Psychiater anrufen?« fragte Bix. Phoebe hatten sie schon eingesperrt.
    Julie zog eine Schnur durch den Schlüssel. »Ich glaube, das ist eine Nummer zu groß für die Psychiatrie, Bix.« Sie hängte sich die Schnur um den Hals wie eine Christophorus-Medaille – eher wie einen Mühlstein, wie den Albatroß aus dem Gedicht von Cooleridge, wie Phoebes gottverdammten Wahnsinn. »Ich glaube, das ist Krieg.«
    »Happy honeymoon«, sagte Bix.
    Hätte Julie nicht tatsächlich in Andrew Wyverns Reich gelebt, sie hätte die folgenden sechs Tage für die reine Hölle gehalten. Grotesk, unmöglich, nervenzerfetzend, aber doch nicht die wirkliche Hölle. »Das Leben imitiert die Seifenopern!« stöhnte sie. Das Hinterzimmer zu betreten – hier, Phoebe, iß doch ein bißchen Huhn; hey, Kindchen, wir müssen die Kommode ausräumen –, beschwor jedesmal ein Gefecht herauf. Phoebe überfiel sie wie ein faschistischer Engel, trat ihr ans Schienbein, riß ihr die Haare aus. Krieg. Krieg, richtig mit Artilleriefeuer, Phoebes Geschrei und ihre geduldigen Antworten: Phoebe, setz dich! Phoebe, reiß dich am Riemen! Eskimos haben Namen für unzählige Schneesorten – Bix und Julie katalogisierten Phoebes Schreie, jede Sorte einzigartig in Tonhöhe und Rhythmus. Da gab es den Schrei, der allgemeine Verzweiflung signalisierte, den Schrei, der ihr Flehen nach Bier und Rum begleitete, und einen, womit sie ihr Verlangen nach der Smith & Wesson unterstrich. Leben mit einem Tages-Werwolf, einem Lycanthropen aus der neuen Raumstation Space Platform Omega, einer Welt in ewigem Mondlicht. Sie wünschten sich eine Silberkugel, irgendwas, um den Werwolf Phoebe von seinem Elend zu erlösen, ihn aus ihrem Leben zu entfernen. Am liebsten hätten sie verfahren wie Claude Rains mit Lon Chaney in Roger Worth’s Lieblingsfilm ›Der Wolfmann‹: ihr das Hirn mit einem silberbeschlagenen Rohrstock rausgeprügelt.
    Am siebten Tag ging Julie zur bewußten Tür. Sie zerrte an der Schlüsselschnur an ihrem Hals. »Phoebe?« Die Schnur schnitt wie eine Garotte in den Nacken. »Phoebe, bist du da?«
    »Gib mir einen Drink.«
    »Phoebe, ich muß dir was Wichtiges sagen.«
    »Ein Bier. Ein gottverdammtes Budweiser.«
    »Es ist

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