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Die eingeborene Tochter

Die eingeborene Tochter

Titel: Die eingeborene Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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Parcel-Lieferwagen, auf helles Kleegrün umgespritzt. Phoebe nannte ihre Suppenküche ›Die grüne Schüssel‹. Liebe auf Rädern.
    »Ihr solltet einmal sehen, wie diese Leute leben«, erzählte sie Julie und Bix. »Als Zuhause eine Lattenkiste, oft nicht mal das. Komm doch am Sonntag mit, Katz. Du auch, Bix. In die Sperrholzstadt.«
    »Ein Holzlagerplatz?« fragte Bix.
    »Diese Menschen verkaufen ihr Blut«, sagte Phoebe. »Und sie verkaufen sich selbst. Kommt ihr mit?«
    »Wir kommen«, sagte Julie strahlend.
    »Wir kommen«, sagte Bix verdrießlich. Immer dieser Skeptizismus, dieser innere Zweifel an Phoebes Genesung. Wir gehen auf Eiern, sagte er immer noch.
    Die Sperrholzstadt – das war kein Holzlagerplatz, wie Julie am Sonntag erfahren sollte, sondern eine Hüttenstadt in West Philly. Die splittrigen Randbezirke dehnten sich über eine halbe Meile zwischen zwei Rangiergleisen des Bahnhofs an der 30. Straße; als ob die Penn Central Railroad eine Art Vergnügungspark gebaut hätte – ›Armut-Land‹. Phoebe fuhr die ›Grüne Schüssel‹ so weit wie möglich ins Gelände und parkte neben einem Chesapeake and Ohio-Kühlwagen, dessen hundert Rinderhälften – Julie sah sie vor sich wie U-Bahn-Pendler im Waggon hängen – die Hüttenstadt ein Jahr lang hätte ernähren können. Julie und Bix luden die Servierkarren und ihre Spenden aus: Kaffee, Zucker, Milch, Orangen, gezuckerte Schmalzkringel.
    Nicht zu vergessen Phoebes selbstgekochte Suppe; dick mit gewürfelten Karotten und ordentlichen Brocken Hühnerfleisch.
    »Am liebsten würden sie ihr Bier in die Brühe gießen«, sagte Phoebe.
    »Zweifellos«, meinte Bix.
    »Wie geht’s dir damit?« fragte Julie. Sie war nicht sicher, was Phoebes Bemerkung über den Alkohol wirklich bedeutete. Gutes oder Böses.
    »Eine schöne, heiße Tasse Budweiser? Klar, dafür könnt ich mich begeistern.«
    Julie zwinkerte krampfhaft. »Es würde dich umbringen.«
    »Wie eine Kugel«, meinte Bix.
    »Wo sind meine Eltern?« wollte Phoebe wissen.
    »In fünf Wochen«, sagte Julie. »Fünfunddreißig Tage.«
    Phoebe zerrte heftig an ihrem goldenen Ohrring. Julie sah schon das Ohrläppchen reißen. »Wo sind sie?«
    »Fünf Wochen.«
    »Ich muß wirklich sagen, Katz, als göttliches Wesen warst du mir lieber.«
    »Fünfunddreißig Tage.«
    »Natürlich. Sicher. Kannst drauf wetten.«
    Phoebe machte sich achselzuckend auf den Weg, der Karren ratterte über Schotter, Suppe spritzte über den Topfrand. Jetzt käme die alte Phoebe ganz gelegen, dachte Julie; die alte Alki-Phoebe, die einfach den Chesapeake and Ohio-Kühlwagen geschickt aufgebrochen und das Fleisch geklaut hätte – des Weihnachtsmanns kleine Umverteilerin.
    Seite an Seite machten sich Bix und Julie auf in die Stadt, schoben ihre Wägelchen durch den Abfall des ganzen Planeten, eine Geruchskakophonie aus Tabak, Müll, Urin, Kot und Bier. Zotzköpfe mit Dreitagebärten hockten vor sich hinstierend mit leeren Gehirnen auf 200-Liter-Fässern. Nackte kleine Jungen mit schmutzigen Füßen pißten Schnörkel auf die Sperrholzwände der Hütten. Plärrende Gospel-Musik aus einem Kofferradio. Nach Phoebes Einschätzung waren die meisten der Bewohner Flüchtlinge der einen oder anderen Sorte, Leute, die kalte und grausame Obdachlosigkeit einem noch kälteren und noch grausameren Zuhause vorzogen: ihren Ehemännern, die sie mißhandelten, quälenden Eltern, Schlafsack-Waisenhäusern, höllischen Besserungsanstalten. Die Zotzköpfe und Alkis bildeten die zweitgrößte Gruppe; die brauchten dauernd Fahrgelegenheiten in die Entgiftungsabteilung im Madison Memorial oder die West Philadelphia Free Clinic zur Generalüberholung. Und dann gab es natürlich noch die umherziehenden Geisteskranken, mit denen man fertig wurde, wenn sie nicht vergaßen, das Gratis-Chlorpromazin abzuholen, das Dr. Daniel Singer, ikonoklastischer Psychiater von der Penn von seinem Station Wagon aus verteilte, Dr. Singers Suppenküche für Psychotiker.
    Julie spürte, daß jeder der Bewohner der Sperrholzstadt die Wohltäter haßte, jeder auf seine Weise. Wohltätigkeit war keine Gerechtigkeit. Julie, Bix und Phoebe gaben jeden Tag Essen aus, schön, aber wer mußte in dieser Senkgrube bleiben, wenn es dunkel wurde, und wer konnte nach Powelton Village zurückkehren? Diese Abneigung blieb auch nicht ganz unerwidert, denn Julie konnte nicht ehrlich behaupten, daß sie diese Menschen liebte, nicht einmal, daß sie sie mochte. Und doch war sie da, folgte der

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