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Die eingeborene Tochter

Die eingeborene Tochter

Titel: Die eingeborene Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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schreiben.
    »Molly, ich sagte deutlich: ›Der Urstoff‹.«
    JULIE, BIST DU DA? kritzelte die Hand.
    »Hör auf, Molly!«
    ICH BIN NICHT MOLLY.
    »Was?« Nicht Molly? »Hör auf mit dem Blödsinn, Molly!«
    Aber das war kein Scherz, spürte sie, kein Schwindel von so einem Neo-Boardwalk-Scharlatan. Molly war es nicht. Also ein Geist? Der Geist von Murray Katz? Der Geist der Urmaterie? Vielleicht sogar… sie, die große Chefin, Geist aller Geister?
    »Mutter?« War das möglich? Endlich doch? »Mutter?«
    NEIN, SCHWESTER, schrieb die Hand. TUT MIR LEID.
    »Jesus?«
    JESUS, schrieb die Hand.
    »Wirklich? Jesus?«
    EM EMI, schrieb die Hand.
    Seltsam. Bei all den Wundern, die Julie in ihrem Leben schon erlebt hatte, fühlte sie sich extrem unbehaglich dabei, so in die leere Luft hineinzureden und Antwort von einer künstlichen Hand zu bekommen. »Ich vermisse dich, Bruder«, sagte sie. »Ich bin so niedergeschlagen.«
    Die Hand unterstrich das TUT MIR LEID.
    »Du kannst nichts dafür.«
    ICH WILL DICH WARNEN, schrieb die Hand.
    »Wovor?«
    SPERRHOLZSTADT
    »Gefährlich?«
    RICHTIG
    »Ich sollte nicht mehr hingehen?«
    GEFÄHRLICHER ORT, schrieb Jesus.
    »Aber ich muß hin. Die brauchen mich.«
    Jesus stimmte zu. SIE BRAUCHEN DICH.
    »Meine Hühnersuppe.«
    Jesus unterstrich. RICHTIG. Dann machte er einen Kreis um den Ausdruck: GEFÄHRLICHER ORT.
    »Also soll ich nicht hingehen?«
    Ein weiterer Kreis um SIE BRAUCHEN DICH.
    »Ich weiß. Ist fast schon Winter.«
    SUPPE, DECKEN, WÄRME, schrieb Jesus.
    »Es ist allerdings gefährlich. Ich bleib da, wenn du das willst.«
    Molly spreizte die Finger. Der Bleistift rollte über die letzte Seite von ›Gott und die Biologen‹ und verschwand zwischen den Laken.
    »Jesus?« Julie drückte Molly den Bleistift wieder in die Hand. »Antworte doch. Soll ich von dort wegbleiben?«
    Nichts.
    »Sag mir, was ich machen soll!«
    Aber die Hand schrieb nichts mehr.
     
    »Liebe Sheila, mich hat’s erwischt!« schrieb Phoebe auf einer Ansichtskarte mit Tintorettos ›Christus vor Pilatus‹. Das war zwei Tage vor ihrer beider Entlassung. »Irene Abbot, eine heimatlose Alkie. Es ist Liebe, Sheila.«
    »Jetzt hast du was, wofür es sich zu leben lohnt«, schrieb Julie zurück.
    »Sie soll bei mir einziehen. Große Neuigkeiten, Sheila! Aber darüber spricht man mit der besten und ältesten Freundin bei einem chinesischen Essen!«
    In ihrer exzentrischen Gefühlsduselei wählte Phoebe den ›Golden Wok‹ – dahin hatten sie sie nach dem Selbstmordversuch geschleppt. Während des ganzen Essens floß die Litanei der Anonymen Alkoholiker – jeder Tag ist der erste, zähle auf die Gnade, lebe und lasse leben – mit jener Gleichmäßigkeit und Inbrunst von Irene Abbots schmalen Lippen, wie das nur jemand fertigbringt, dessen Kopf zu einem einzigen Warenlager für Klischees geworden ist. Wie konnte sich Phoebe nur in diese dumme Kuh verknallen, diese bleiche, magere, geschwätzige Lesbierin, die aussah wie ein Blutegelopfer?
    »Vor allem muß man begreifen, daß ich mich einer höheren Macht anvertraut habe«, erklärte ihr Irene, als die Glückskuchen serviert wurden. »Gott hat mich von der Flasche weggebracht« – sie schenkte Phoebe ein schüchternes Lächeln – »mit ein bißchen Unterstützung von Phoebe Sparks und den A.A.«
    »Wie schön«, brummte Julie. Gott hat Irene von der Flasche weggebracht. Kann sein, Mutter. Nett von dir, Mutter.
    Phoebe sagte: »Du solltest auch mal zu einem Treffen kommen, Julie. Da lernst du eine Menge über das Leben.«
    »Ich fürchte, ich weiß über das Leben mehr, als gut ist.« Julie befahl Molly, die Tasse mit Black Dragon-Tee zu packen, führte sie zum Mund. Ihr Bruder war ein vornehmer Mann, aber diese halbherzigen Andeutungen neulich – ein gefährlicher Ort, sie brauchen dich – das war irritierend. Und das sah ihm gar nicht ähnlich.
    Die Seraph-Klinik konnte nicht nur Hände ersetzen. Auch bei Säufern leisteten sie hervorragende Arbeit. Seit sie zehn Jahre alt war, hatte Phoebe nicht mehr so gesund ausgesehen. Glänzende Locken; straffe Gesichtshaut. Wie ein Trampolin. »Bei den A.A. sind die Leute völlig ehrlich«, sagte sie. »Hello, ich heiße Phoebe. Ich bin Alkoholikerin. Keine Lügen.«
    »Wär nichts für mich. ›Hello, ich heiße Julie. Ich bin eine Inkarnation.‹«
    »Du bist nicht besonders religiös?« fragte Irene.
    »Ich halt mich mehr an die Schwerkraft.«
    Phoebe öffnete ihren Glückskuchen und zog den Papierstreifen

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