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Die eingeborene Tochter

Die eingeborene Tochter

Titel: Die eingeborene Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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diesen Scheiß leisten kann?« Ihr war zum Speien. Molly? Molly? Jesus!
    »Wir überprüfen grade die Krankenversicherung Ihres Mannes«, sagte Kevin. »Wie’s aussieht, dürfen Sie Molly schon behalten. Sie werden sie bald genauso mögen« – er gab ein kurzes, schnaubendes Gelächter von sich – »wie den Stumpf!« Er parkte den Karren neben Julies Bett und zog ihr sanft den Handschuh über den Armstumpf. Weich und warm fühlte es sich an, ein Brutkasten, in dem winzige, feuchtlippige Geschöpfe heranwuchsen. »Also los – probieren Sie’s aus!«
    Was für ein unbefriedigendes Jahrhundert, dachte sie, dieses einundzwanzigste. Eine Million High-Tech-Hände, aber künstliche Eierstöcke gab es nicht. Sie schob die lächerliche Maschine bis auf Griffweite an die Rosen heran. »Gib mir eine Rose«, befahl sie.
    Nichts.
    »Sie müssen den Namen dazusagen«, verlangte Kevin.
    »Molly?«
    »Richtig.«
    »Molly, gib mir eine Blume!«
    Aus dem Handrücken kam ein gläsernes Auge wie ein Periskop aus einem U-Boot, drehte sich ein wenig hin und her, Daumen und Zeigefinger gingen auseinander, legten sich dann um den Stengel einer Rose.
    Julie lief es kalt über den Rücken. Eben hatte hier jemand getanzt, aber wer? »Molly, laß sie fallen.« Die Roboterfinger öffneten sich, ließen die Rose auf ihren Schoß fallen.
    »Passen Sie auf, daß ihr nichts passiert«, mahnte Kevin. »Es gibt nur eine pro Patient! Wenn ich Ihnen raten darf: lassen Sie sie versichern.«
    In den nächsten Tagen vernarrte sich Julie in Molly, als sei die Maschine ein Schwamm oder Seestern aus ihrem alten Spielzeugzoo. Und wirklich – manchmal kam ihr Molly vor wie die einzige Quelle von Mitgefühl und Wärme in einem sonst absolut sinnlosen Universum – Wärme im Wortsinn, denn die Innentemperatur ließ sich einstellen, so daß Molly zu einer Art vibrierender, liebkosender Wärmflasche wurde, 32 Grad warm, immer und überall einsatzbereit.
    Auch wenn sie nicht an den Stumpf geschnallt war, erwies die Kunsthand sich als nützlich. Wie es Julie gerade einfiel, kroch Molly als unermüdliche Dienerin durchs Krankenzimmer. »Molly, hol mir die Fernsehzeitung!«
    »Molly, wähl doch Phoebes Nummer!«
    »Molly, kratz mir den Rücken!«
    »Molly, blättere um!«
    Blättere die Seite um. Julie war wieder bei ihrer alten Obsession. Gralssuche nach der Mutter, Odyssee nach dem Göttlichen. Aber die Dinge standen schlechter als je zuvor. Nach den Büchern und Journalen, die Bix stoßweise aus der Philadelphia Free Library hereingeschmuggelt hatte, war die Gottheit der Physik nicht bloß jenseits der Raumzeit, sondern sogar noch jenseits dieser Jenseitigkeit. In der 2011er April Nummer von Nature zum Beispiel postulierte der namhafte Teilchenphysiker Christopher Holmes, ausgehend von einer neuen Theorie einer imaginären Zeit, ein Universum ohne irgendwelche Grenzen und Kanten, ohne Anfang und Ende – ein Universum, in dem ein höheres Wesen schlicht nichts zu tun hätte.
    »Molly, gib mir das andere da! Das blaue.«
    Carl Basmajians ›Gott und die Biologen‹ – vielleicht hatte sie bisher auf viel zu hochgestochenem Niveau recherchiert. Vielleicht manifestierte sich Gott in der Lilie, im Schmetterling, im ingeniös entworfenen optischen System eines Augapfels. Vielleicht konnte Julie ihre Mutter durch schlichte Berufung auf den Uhrmacher-Gottesbeweis – keine Uhr ohne Uhrmacher, kein Auge ohne Augenmacher – schließlich doch noch in die Realität locken.
    Sie las Basmajian. Die Wunder der Natur, erfuhr sie darin, angefangen vom Bienenflügel und Fledermaussonar bis zum Augapfel eines Babys waren nicht so sehr perfekte Maschinen als vielmehr hinlänglich funktionierende Behelfsmechanismen. Wenn der Natur tatsächlich ein schaffender Geist innewohnte, dann war der verwirrt und unvollständig, ein Geist, der es nicht fertigbrachte, den Sehnerv an der richtigen Stelle der Netzhaut einzupflanzen, außerstande, irgend etwas zu vollenden, ohne zu Pfuscherei und Aussterben von Arten Zuflucht zu nehmen.
    »Molly, gib mir ›Der Urstoff‹ dort oben!«
    Molly rührte sich nicht.
    »Molly – ›Der Urstoff‹!«
    Irgend etwas war nicht in Ordnung. Ein Kurzschluß, ein kaputter Chip, irgendwas – statt zu gehorchen, marschierte Molly über die weiße Bettdecke, nahm den Bleistift, mit dem Julie jeden Morgen das Kreuzworträtsel im Philadelphia Inquirer ausfüllte, machte kehrt und begann auf der letzten Seite von ›Gott und die Biologen‹ zu

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