Die eingeborene Tochter
dem Kofferradio. »Unser WPIX-Wetterteam prognostiziert heute nacht zwanzig Grad unter Null.« Ein Kanister Sterno würde das Chaudry-Baby nicht gegen die Kälte schützen. Auch keine Steppdecke aus einem Garagenladen, auch kein Skianzug vom Flohmarkt. Geschweige denn warme Milch oder die armselige Fiberglasisolierung.
Julie mochte Mohammed Chaudry. Er war Flüchtling seit dem letzten, phantastisch erfolgreichen Versuch der CIA, im Iran wieder einen Schah zu installieren. Er sammelte Altmetall und brachte sich damit durch, bekam fünfzig Cent pro Pfund. Mohammed war zwar nicht Pa Joad, aber der typische achtbare Arme war er auch nicht. Er stahl. Er glaubte, es gehöre sowieso alles den Juden. Halb im Spaß sprach er davon, den Außenminister zu ermorden. Julie gefiel seine Aufrichtigkeit, der Mangel ungewöhnlicher Tugenden, und als sie sich entschied, ihm diese Nacht etwas mehr zu geben als Corning-Isolierung, sah sie das nicht als milde Gabe, sondern als gerechten Ausgleich, nicht als Lohn, sondern als etwas, das ihm zustand.
Sie ging durch dämmriges Schneegestöber zum Tureen, die düsteren Waggons zu ihrer Rechten, zur Linken die frosterstarrte Hüttenstadt. Schneeflocken setzten sich wie weiche Insektenkörper auf ihren Parka. Sie gähnte lang und ausgiebig, bekam winzige Schneekristalle in den Mund. Ihr Ziel war der Superfresh-Laden an der Kreuzung 35. und Spring Garden, der die ganze Nacht offen hatte. Der Tureen leer, kein Kaffee, kein Zucker, keine Orangen mehr, überhaupt nichts. Sie wollte nicht fahren. Sie wollte auf geradem Wege heim in Bix’ feurige Umarmung.
Plötzlicher, in der Stille weithin hallender Ton; Bowlingkugel auf Stahlkegeln. Julie drehte sich um. Die schwere Schiebetür eines New York Central-Waggons wurde aufgeschoben, und bevor noch die dunklen Gestalten heraussprangen, wußte sie schon, daß etwas Abscheuliches im Anmarsch war. Als die Bullen durch den Schnee auf sie zukamen, klopfte ihr Herz, geschlagen mit der Gabe der Prophetie, im Takt der beiden Silben: Zirkus, Zirkus. »Haut ab!« schrie sie den kalten Lichtkegeln der Taschenlampen entgegen. »Laßt mich in Ruhe!«
Ein gutes Dutzend. Kugelförmige Helme, grüne Schutzschilde, ein Schwarm bösartiger Heuschrecken. Der Captain, ein riesiger, grobschlächtiger Kerl, dessen breiter Schnurrbart wie ein Geweih unter seiner Nase vorstand, marschierte auf sie zu, in der Hand die Militärmauser. »Der heilige Fluß wird dich wie Säure verbrennen«, erklärte er und öffnete das Visier, »und an diesem Zeichen werden wir dich erkennen.«
»Das hier ist amerikanischer Boden!« zischte Julie. »Ich will eure Pässe sehen!«
»Bruder Michael, zeig diesem Weib unsere Pässe.« Ein Bruder Michael war ein plumper, pickeliger Sergeant. Er zeigte keine Pässe vor. Nur Handschellen.
Eine ließ er um Julies linkes Handgelenk zuschnappen. Mit der anderen traf er nur leere Luft.
»He, die hat nur eine Hand!« Bruder Michael klang erschrocken, direkt beleidigt. »Man hat ihr die Hand genommen! Wo ist die Hand?«
Sehr richtig, keine Hand, keine Molly. Molly mit den heißen Schaltungen, Molly, der Ofen mit den fünf Fingern, war nun in Chaudrys Hütte installiert. Keine Leihgabe, auch kein Geschenk. Eher ein Opfer, der Penny, den der Arme gibt. Sie konnte Bix förmlich hören: Aber Julie, sie ist nicht versichert, wir kriegen keine neue, warum hast du sie verschenkt?
»Kette sie an dir fest!« befahl der Captain.
Aus. Gefesselt. Gefangen. Gefährlicher Ort. Das kalte Metall fraß sich in ihr Handgelenk.
Der Captain stieß sie mit der Mauser am Tureen vorbei bis zum Ende des Nebengleises, vorbei an einem finster brütenden Chemikalienwaggon, der wie eine Ladung aus flüssigem Haß auf den Gleisen hockte. Julie protestierte. »Ich habe meine Rechte!« Hinter den Puffern stand ein unauffälliger Tastycake-Lieferwagen unter einer Schneehaube. »Wo bringt ihr mich hin?« Der Sergeant kletterte auf den Beifahrersitz, zog Julie neben sich. Sie bekam erstickende Staubzuckerwolken in die Nüstern. »Ich bin amerikanische Bürgerin!« Der Captain setzte sich ans Steuer. »Laßt mich frei!«
Als der Tastycake-Wagen sich auf der Market Street dem Delaware zuwandte, weinte Julie. Aus Furcht. Aus Wut. Und Trauer. Aus Selbstmitleid, Einsamkeit, Ungewißheit. Aber am meisten wegen der plötzlichen Erkenntnis, daß der wirkliche Spruch in ihrem Glückskuchen nun lautete: ›Die Ankunft deines zweiten Bruders in dieser Welt wirst du verpassen…‹
16.
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