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Die eingeborene Tochter

Die eingeborene Tochter

Titel: Die eingeborene Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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Kapitel
     
    Billy Milk zog den Reißverschluß an seinem schneeweißen Neoprene-Taucheranzug zu und schlenderte am ewig fruchtbaren ›Baum des Lebens‹ vorbei zum Ufer hinunter, wo er in den ›Fluß der Wiederkehr Christi‹ hineinwatete, dessen schäumende Wasser von den Bächen im Norden mitten durch die Stadt der See zuliefen. Genau wie es das Buch der Offenbarung verlangte, wuchs der Baum ›auf beiden Seiten des Flusses‹, der mammuthafte Stamm spannte einen Bogen, einen Steg über das Flußbett, ein Naturwunder, das auf der Existenz zweier getrennter Wurzelsysteme auf beiden Ufern basierte. Denn unter den Gottesgeschenken des Jahres 2012 gab es, auf daß die Schrift erfüllt werde, auch die Biotechnik.
    Obwohl die Taufen weniger populär waren als die Verbrennungen, wurden sie von Billys Herde getreulich besucht. Über dreihundert Gläubige säumten das Flußufer, weitere hundert saßen auf dem Baum, ihre hellen Gesichter schauten zwischen den mit goldenen Äpfeln beladenen Zweigen hervor. Aber war es wirklich die bloße Liebe zu Gott, die sie hierherbrachte, fragte sich Billy, oder kamen sie, weil bei jeder dieser Zusammenkünfte das Phantomauge des Großpastors mindestens einmal unter die Hülle eines angeblich Bekehrten spähte, und die wurmigen Eingeweide eines versteckten Unbestimmtheitlers offenbarte? »Ketzer!« rief Billy dann. »Mögen nun Gott und der Zirkus sich mit dir abgeben!« Woraufhin die Menge in Begeisterung auszubrechen pflegte.
    Jedenfalls die meisten. Es gab immer welche, die das Vorgehen der New Jersey-Inquisition mißverstanden, für lieblos, sogar für schriftwidrig hielten. Billy hatte gelernt, mit solchen Fehlurteilen zu leben. Ähnlich falsche Auffassungen hatten damals den Angriff auf Atlantic City begleitet.
    Billy erreichte die Sandbank, kletterte hinauf und drehte sich um. Volles Haus, aber kein Timothy. Zweifellos war der Erzhirte noch in seinem Bußschlupfwinkel, saß immer noch nackt im gefrorenen Schlamm unter der Brigantine Bridge. Billy sah vor seinem inneren Auge die schwere Prüfung des Jungen, wie das Eis Timothys Lippen und Augen bedeckte, bösartige Dezemberwinde sein Fleisch peitschten. Da zieht man einen blinden Sohn auf. Da erzählt man ihm von Jesus, füttert ihn mit Hafer und Kleie, wickelt ihn jeden Abend in seine Decken, und am gleichen Tag, da der Himmel seine Augen gesund macht, kauft man ihm ein Fünfzehn-Gang-Rad mit Hupe und Satteltasche. Und dann landet er bei diesen Selbstgeißelungen wie irgendein papistischer Flagellant. Es gab alles keinen Sinn.
    Kalt war der heilige Fluß, dachte Billy – aber der Jordan war ja auch nicht gerade eine Sauna. Heftig zitternd näherte sich der erste Bekehrte, ein Schwarzer, zweifellos ein weiterer Bürger Newarks, der die Versuche, die Fleischtöpfe der Humanisten auf Staten Island zu erreichen, satt und sich entschlossen hatte, lieber den Erlöser anzunehmen. Staten Island: Gott hinterließ seine Botschaft überall, so war es doch, nicht bloß in der Schrift, nicht bloß auf den mosaischen Tafeln. Man brauchte nur das erste T in Staten wegzunehmen, also das Kreuz, und man erhielt ›Saten‹, und das heißt ›Satan‹.
    Billy legte dem Mann eine Hand auf die Schulter, die andere aufs Kreuz. Bezüglich der Taufe war die Schrift von kristallener Klarheit. Der ganze Körper mußte untergetaucht werden, einmal, zweimal, dreimal – Tod, Begräbnis, Auferstehung –, nicht weltfremdes Wassergepritschel wie bei den Papisten. »Wir steigen mit Christus als Abbild seines Todes hinab.« Billy ließ den Mann sich beugen, tauchen und hielt ihn unter Wasser. »Und wir erheben uns, den neuen Weg des Lebens zu wandeln.« Billy brachte den Bekehrten nach oben, das helle Wasser floß wie Freudentränen über das schwarze Gesicht.
    »Hallelujah!« rief der Bekehrte hustend und lachend. Kein Satan Island gab es mehr für ihn.
    »Hallelujah!« schrie die Menge.
    Eine Minute folgte der anderen, eine Bekehrung der nächsten, und plötzlich war Billys Kommandant bei ihm, bis über die Hüften im Wasser, ein dralles Weib an seiner Seite. Eine Jüdin. Billy spürte das. In den Vierzigern, halb hausbacken, halb lüstern, braune Haut, pilzgrüne Augen, ein Turban dichten schwarzen Haars ergoß sich über Haupt und Stirn.
    Billy fragte: »Ist das…?«
    »Denke schon«, antwortete Peter Scortia.
    Eine Hand fehlte. Im rechten Ärmel ihres Parka kam eine grinsende Naht zum Vorschein. Das paßt genau dazu, dachte Billy, denn alles an diesem

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