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Die eingeborene Tochter

Die eingeborene Tochter

Titel: Die eingeborene Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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Zirkus schicken.«
    »Nicht unbedingt. Nicht ohne Unterstützung von unserer Seite. Wie lange bleiben wir in New Jersey?«
    »Einen Monat. Entspannen Sie sich, Sir. Noch hat niemand für sie gebetet.«
    »Nach meiner Erfahrung«, erklärt Wyvern, »darfst du dich nie aufs Christentum verlassen.« Er fährt mit der Hand über seine brennenden, wulstigen Lippen. »Ich war überzeugt, sie würden Galilei zu Tode foltern, ich war absolut sicher. Erinnerst du dich an meine Wette mit Augustinus?«
    »Sie haben, glaub ich, eine Menge Geld verloren.«
    »Eine Billion Lire, Anthrax. Eine volle Billion.«
     
    Das Staatsgefängnis von New Jersey war eine Art unterirdisches Wespennest, ein Konglomerat von Gängen und Zellen. Die Insassen waren weniger durch steinerne Mauern gefangen, als durch das Fehlen jeder Orientierungsmöglichkeit: durch völlig widersinnige und verrückte Anordnung der Krümmungen und Biegungen. Schranken des seelischen Chaos, eine Art Entropiefesseln hielten die Gefangenen fest.
    Andererseits war es wieder sehr modern und auf der Höhe des Jahrhunderts. Argonlicht, Solarheizung, zentrale Klimaanlage. Androiden mit Kristallaugen rissen den Papisten die Fingernägel aus. Computergesteuerte Streckbänke zogen die Körper der Homosexuellen in die Länge. Fusionsreaktoren erhitzten die Zangen, mit denen die Unbestimmtheitler gequält wurden, bis sie ihren Irrglauben einsahen und um Aufnahme in die Wahre Kirche bettelten. Nur im alleruntersten Stockwerk, wo sie Julie untergebracht hatten, herrschte eine gewisse mittelalterliche Atmosphäre.
    Mit jedem Tag schien ihre Zelle – Nummer 19 – zu schrumpfen, die feuchten Wände rückten immer mehr zusammen, als seien sie irgendwie mit dem gequälten Hirn des armen Edgar Allen Poe verbunden. Sie kannte die Namen ihrer Zellengenossen. Ratte Bix, der flinke Fellball. Ratte Phoebe, dünn und bestimmt, mit ewig zuckender Nase. Und dann die zwergenhafte, großäugige mit einem Kätzchenfell: nach Julies Berechnung hatte die Geburt letzte Woche stattgefunden, war der kleine Murray Sparks schreiend und glucksend aus Phoebe herausgepurzelt.
    Wenn sich Julie in sich selbst zurückzog, spürte sie, wie ihr Ruhm sich über die Republik verbreitete. Stunde um Stunde flimmerten Sheila-Stories über die Schirme der Jersey-Kabelstation. Über vier Monate hatten die guten Nachrichten die Titelseiten der New Jerusalem Times beherrscht. SHEILA GESCHNAPPT… SHE1LA EINGESPERRT… PROZESS STEHT BEVOR… WIEDERKUNFT JESU SICHER. Zur Feier des Tages läuteten die Kirchenglocken, die Patrouillenboote der Inquisition feuerten Freudensalven. DER DROHENDE PROZESS: eine alte Geschichte – Christus vor Pilatus, Johanna vor den französischen Priestern. Brenn, Ketzerin, brenn! Jede Nacht träumte sie davon, im Blut zu ertrinken; sie erwachte schweißnaß, das Strohlager roch schon wie die Absecon-Bucht. Ihre Angst glich dem Preiselbeersumpf, wo sie nach ihrer Entgöttlichung aufgewacht war, einem stinkenden Morast. Sie hatte Kopfweh, Magenweh, Darmkrämpfe.
    Schlüssel klirrten wie ein Spielautomat beim Auszahlen im ›Tropicana‹, das es nicht mehr gab, und Oliver Horrocks trat ein. Julie haßte ihren Wärter nicht, sie mochte ihn beinahe. Er war ein früherer ›Der Himmel hilft‹-Leser, dessen Offenbarungsgesinnung auf bedeutend wackligeren Füßen stand, als seine Arbeitgeber ahnten. Bezüglich Julie konnte er einfach zu keinem Urteil kommen; an manchen Tagen machte er sie für alle Plagen Jerseys verantwortlich, angefangen bei den Brotschlangen bis zur mißlungenen Parousia, dann wieder schmuggelte er für sie Tastycake-Krumpets herein.
    »Uch!« sagte Oliver Horrocks, als er die Rattenversammlung bemerkte. »Da sind wir also in der saubersten Stadt der ganzen Welt und dann… Ratten! Sie haben das Ganze zu tief runtergebaut, das ist das Problem. Wenn du ein Gefängnis so tief runter verlegst, gibt’s unweigerlich Ratten.« Er war eine Art männliche Version eines alten Weibes, mit krummem Rücken und vogelähnlich, das schmale Gesicht von geplatzten Äderchen durchzogen. »Nun, wer immer du auch bist, Ratten verdienst du nicht. Gehen wir.«
    Julies Phantomdaumen juckte. »Wohin?« fragte sie.
    »Bin nicht befugt, dir das zu sagen.« Wie um das Rattengesindel vom Mithören abzuhalten, beugte er sich zu ihr hinunter, bürstete den Ärmel ihrer gestreiften Pyjamajacke und flüsterte: »Nur soviel: Sie würden dich viel lieber bekehren als verbrennen. Diese Leute, für die ich arbeite,

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