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Die eingeborene Tochter

Die eingeborene Tochter

Titel: Die eingeborene Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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physisch berühren. »Schwerkraft«, flüsterte sie. »Auch Magnetismus, die starke Kernkraft, die schwache Kraft…« Sie trug das Baby zu den Korporalen. Das muß sein wie Fliegen, dachte sie, wie Treiben auf einem Fluß. Seine schokoladenfarbenen Augen waren weit offen. »Die Erde kreist um die Sonne«, sang sie ihm vor, »Mikroben verursachen Krankheiten.« Ein ganz neues Wesen. Von nichts noch geprägt. Zu traurig, daß Papa und Marcus Bass diese spezielle Verknüpfung ihrer beider verschlungenen Leben nicht mehr sehen konnten: Sohn des Leuchtturmwärters, Enkel des Meeresbiologen. »Das Herz ist eine Pumpe.«
    Murrays gute Laune war dahin; jähes, lautes Geschrei. »Sei still«, flüsterte sie, preßte ihn an ihre schlaffe rechte Brust. »Deine Probleme fangen ja erst an.« Es war nicht der Tod, wovor sie sich fürchtete, es waren, ganz einfach, die Nägel. Sie fürchtete um ihren Körper, fürchtete die bevorstehende Qual.
    Papas Sohn schloß den Mund, mampfte lebhaft mit nassem Zahnfleisch an ihrer Pyjamajacke wie eine Flunder, die angebissen hatte. Ihre Brustwarzen wurden steif. Die Korporale zogen es vor, nichts zu bemerken. Julie haßte sie. Sie sahen alle erstaunlich gut aus, unglaublich glattrasiert: Männer mit ausgebrannten Barthaaren.
    Klein-Murray hörte auf zu saugen und lächelte.
    »Sechs Minuten.«
    Julie drehte sich nach der zylindrischen Tür um, legte das Baby mit dem Bauch nach unten auf den Boden und ließ sich daneben nieder wie ein Kind, das sich neben sein Puppenhaus legt und es damit zum Maß aller Dinge macht. Was sollte man Babies sagen, worüber wollen sie etwas wissen? »Nun, zuerst einmal ist da deine Mutter«, sagte Julie. »Ein bißchen exzentrisch, aber ich glaube, sie ist dabei, glücklich zu werden. Dann gab es da deinen Vater – auch ein bißchen verrückt, aber du hättest ihn gemocht, das weiß ich. Dein Großvater Marcus war ein großer Biologe. Deine Großmutter war eine Frau, gegen die ich mich versündigt habe…«
    »Fünf Minuten.«
    Phoebe kam näher. Ihr Pyjamaoberteil war feucht von Milch.
    »Bist du okay?«
    »Nein.« Julie zwang sich zu einem Lächeln. »Ich mag meinen Bruder.«
    »Das dachte ich mir. He, Katz, ich hab deine Bestimmung rausgefunden – rat mal!«
    In Phoebes linkem Auge saß eine Träne wie eine Perle im Fleisch der Auster. Sie machte den Büstenhalter auf und hob ihren Sohn sanft vom Boden auf. »Das ist deine Bestimmung, richtig? Dieser kleine Kerl. Klein-Murray. Wenn du seine Mutter nicht von ein paar Schlachtfeldern gerettet hättest, würde er immer noch in einem Reagenzglas leben.«
    Julie erhob sich und küßte ihren Bruder auf seinen haarigen Kopf. Gute alte Phoebe, niemals um bizarre Ideen verlegen. »Meine Bestimmung, hm? Warum? Ist er auch ein göttliches Wesen?«
    »Nein.« Phoebe lächelte. »Er ist ein Baby.«
    »Und er ist meine Bestimmung?«
    »Ich glaub schon.«
    »Klingt eher…«
    »Normal? Genau, Katz. Du wurdest gesandt, um ganz normal zu sein.« Phoebe leckte sich die herabfallende Träne von der Wange. »Eines Tages schreib ich deine Biographie. Das Evangelium nach Phoebe. Wie Gottes Tochter ihre Göttlichkeit aufgab und dadurch ihre Seele gewann.«
    »Vier Minuten.«
    Und da war auch schon Bix. Er watschelte auf sie zu.
    Julies Armstumpf fing an zu kribbeln. Sie griff mit ihrer Phantomhand nach seinem Rockaufschlag, und er lehnte sich an sie wie ein Säufer, der an einer Straßenlaterne Halt sucht. Ihre Umarmung war so heftig wie nie zuvor; wie bei einem Autounfall krachten sie zusammen. Ihr Verlangen entflammte zu neuem Leben. Sie lächelte, beeindruckt von der partysprengenden Schamlosigkeit des Sexus, dieser Bereitschaft, sich überall zu zeigen – bei einem Begräbnis, einer Predigt. Bei einem letzten Lebewohl. Das war die richtige Art, zu gehen, dem Kosmos die Schamlippen aufzudrücken.
    »Du warst eine gute Frau«, sagte er.
    »Du warst ein guter Mann«, sagte sie.
    Sie lösten sich aus der Umarmung.
    Julies Kehle war geschwollen wie ein gebrochener Knöchel. Sie schlich sich an ihre beste Freundin heran. »Good-bye, Grüne Zauberin.«
    »Zwei Minuten.«
    »Ich halt das nicht aus.« Phoebe liefen die Tränen herunter.
    »Ich sagte ›Good-bye, Grüne Zauberin‹.«
    »Ich werd noch verrückt… Good-bye, Königin Zenobia. Mein Gott, ich hasse das – hasse das – hasse das…!«
    Langsam verschmolz Phoebe mit ihr, verströmte eine unfaßliche Mischung aus Zärtlichkeit und Erotik, bis alle drei – das Baby, die

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