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Die eingeborene Tochter

Die eingeborene Tochter

Titel: Die eingeborene Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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verstecken?«
    »Ich versuche nur logisch zu sein. Ich will Sie nicht beleidigen.«
    COKE IS IT verkündete die Glühwürmchen-Leuchtschrift.
    Beleidigt? Ja, das war er. Und doch – am nächsten Tag in der Mittagspause machte er sich auf, die terra incognita namens Jesus zu erkunden. Er wagte sich quer durch die Stadt in den ›Wahrheit und Licht‹-Buchladen auf der Ohio Avenue. Gottes angeblicher Nachkomme, fühlte er, fürchtete er, konnte ihm etwas über Julie sagen.
    »Sie wünschen?« fragte die Angestellte, eine schmächtige, ältere Frau, die Murray an gepreßte Blumen erinnerte. »Sind Sie einer von jenen Juden?«
    »Von welchen Juden?«
    »Reverend Milk sagt, da nun die Wiederkunft nahe ist« – sie lächelte schillernd –, »werden sich Ihre Leute auch zum Christentum bekehren.«
    »Das bleibt abzuwarten.« Über Murrays Haupt prangte ein Gemälde. Ein Haufen Pilger strömte über eine kreuzförmige Brücke in Richtung einer goldenen, festungsartigen Stadt. Darüber stand: Das Neue Jerusalem.
    »Hören Sie, muß ich die ganze Bibel kaufen, oder kann ich das Jesus-Material extra haben?«
    »Die ganze Bibel ist Jesus.«
    »Aber nicht die Torah, nein.«
    »Oh, natürlich.«
    Jesus war überall. Jesus-Bücher, Jesus-Traktate, Jesus-Poster, Jesus-Tischgedecke, -Kaffeetassen, -Brettspiele, -T-Shirts, -Schallplatten, -Videokassetten. Murray zog ein Neues Testament aus dem Regal.
    »Eine King James-Übersetzung?« Die Angestellte hielt ihm ›Die gute Nachricht für den modernen Menschen‹ hin. »Mit dem hier werden Sie sich viel leichter tun.«
    King James. Kürzlich hatte Murray beim Stand von Herb Melchior eine Biographie über diesen König entdeckt, Englands literarischsten Monarchen seit Alfred dem Großen. King James I. von England war sicherer Grund, wo er seinen Fuß hinsetzen konnte, ehe er sich ins unbekannte Jesus-Gelände stürzte.
    »Nein, ich nehme James. Wieviel?«
    »Für solche wie Sie, Konvertit und so – gratis.«
    »Ich bin kein Konvertit.«
    »Um ehrlich zu sein, wir geben das Geschäft auf. Der Hausbesitzer will den Mietvertrag nicht erneuern. Wissen Sie, was ihm Resorts International für das Haus geboten hat? Achthunderttausend Dollar. Können Sie sich das vorstellen?«
     
    In dieser Nacht sondierte Murray die Evangelien. Alles fremd – als ob man die Wäsche eines Fremden anhat, einen fremden Wagen fährt –, aber er blieb dabei und entdeckte eine beunruhigende Einzelheit nach der anderen.
    Da gab es eine Jungfrauengeburt.
    Eine Geschichte vom Wandeln auf dem Wasser.
    Die Schädelstätte.
    Auch einen Anschlag auf das Leben des Kindes: Und Herodes schickte aus und Heß alle Knäblein zu Bethlehem töten und in der ganzen Gegend, die da zweijährig und darunter waren.
    Murray schloß die King James-Bibel. Diese widersprüchliche Persönlichkeit, deren Name synonym war mit ihrer Sendung, dieser passiv-aggressive Prophet, der sich vor seinem dreiunddreißigsten Geburtstag hatte zu Tode foltern lassen, dieser Jude, der, abgesehen von seiner späteren Rematerialisierung, niemals seine armen bestürzten Eltern sah – war Julie wirklich die Halbschwester dieses Kerls?
    Nein, nein, lassen wir Georgina und das neue Testament einmal beiseite – die ganze Sache war höchst albern.
    Und in der Tat, mehrere Monate lang ereignete sich nichts auch nur entfernt Übernatürliches im südöstlichen New Jersey.
     
    Wie die meisten Vertreter seiner Spezies prahlte Kater Spinoza mit seiner jagdlichen Meisterschaft – seid ihr nicht stolz auf mich, ist es nicht großartig, an der Spitze einer Nahrungskette zu stehen? –, aber während Festlandkatzen nach Mäusen und Eichhörnchen pirschten, hatte sich Spinoza auf die Gaben der See spezialisiert.
    »Was ist das?« wollte die vierjährige Julie wissen, als Spinoza an einem frostigen Februarnachmittag mit einem halbtoten Etwas im Maul ins Haus gestürmt kam.
    »Eine Krabbe«, erklärte Murray. Spinoza trug den Kadaver zum Kamin, als habe er vor, ihn zu rösten. Er ließ die Krabbe auf den Rücken fallen. »Sie ist tot.«
    »Aber ich mag die Krabbe!«
    Spinoza hielt die Krabbenleiche mit einer Pfote fest und kaute an einem Bein. »Hau ab!« rief Murray. Der Kater erschrak, jagte als pelziger Pfeil davon. Die Krabbe blieb liegen. Julie rannte hin, die Faust voller Buntstifte.
    »Ich mag nicht, daß sie tot ist!«
    »Tut mir leid, Schatz.«
    Sie stieß den gelben Stift auf den Krabbenkörper.
    »Zum Teufel, laß das!« befahl Murray.
    Nun nahm sie den

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