Die eingeborene Tochter
zog die Augenbrauen zusammen. »Nun, ich glaube, dann dürftest du es atmen. Aber, Julie, es ist höchst unwahrscheinlich, daß du jemals an einen Felsblock gefesselt in die Bay fällst.«
»Wenn ich das Wasser atmen darf, damit ich nicht ertrinke, darf ich’s dann einmal nur zum Spaß probieren? Oh, bitte, Papa, ich muß sehen, wie’s dort unten aussieht.«
Eine volle Minute lang sagte er nichts. Dann: »Würde es so sein, als ob du die Luft anhältst?«
»Sicher. Als ob ich die Luft anhalte.«
»Na schön…«
So hast du gewonnen. Du kannst nun durch Kiemen atmen. Was deine anderen Kräfte betrifft, Krabben lebendig machen und so, blieb Pop unerbittlich: du darfst diese Kräfte niemals anwenden. Das Verbot ist ein Teil deiner selbst, in deine Wange eingebrannt, wie der Gott der Juden sein Gesetz in Stein gemeißelt hatte.
»Wir haben eine Klasse für Taube in der Schule. Vierzehn taube Kinder.«
»Das ist bedauerlich.«
»Ich werde sie nicht heilen.«
»Gut.«
»Ich denk gar nicht dran, sie zu heilen. Auch nicht Ronnie Trimble, der immer im Rollstuhl sitzen muß.«
Du berührst den Boden. Kalter Sand quillt zwischen den Zehen hervor. Ein dunkler Aal, gummiartig dick wie eine lebende Wurst, stößt dir gegen den Magen, zupft am Care Bear-Badeanzug, den Papa dir zum Geburtstag geschenkt hat.
Du hast dich über den zehnten Geburtstag gefreut. Nur daß deine Mutter nichts geschickt hat, nicht einmal eine lausige Karte. Phoebe hat dir einen Pullover mit Katzen drauf geschenkt. Tante Georgina ist mit einem Haufen netter Sachen aus dem Smile Shop aufgetaucht: Eine als Nelke getarnte Spritzpistole, eine Sonnenbrille mit Scheibenwischern, einen Hut mit Dosenhalter und Plastikstrohhalm. Damit kannst du beim Radfahren Cola trinken.
Du schwimmst in die Höhle, windest dich wie ein Seehund. Du haßt deine pummelige Figur – erinnert an eine Zucchini. Du möchtest sie karottenförmig. Phoebe ist eine Karotte.
Dein Privatzoo kriecht und wimmelt um dich herum, möchte gestreichelt und gekitzelt werden. Manchmal dringst du in ihre sanften Gedanken ein. Die Flunder ist hungrig. Der Seestern wünscht sich Babies. Der Hummer ist ängstlich; auf irgendwie seltsame Hummerart.
- He, Julie! Amanda, der Schwamm.
- Wir sollten nicht reden, antwortest du.
- Warum?
- Weil es ist wie Wunderwirken.
- Mit einem Schwamm zu sprechen ist nicht ganz dasselbe, wie den Lauf der Sonne aufzuhalten, bemerkt Amanda.
Du gleitest weiter, tiefer und tiefer in schokoladebraune Finsternis.
Vor einem Jahr saßen du und Papa auf der Couch und schauten ein Buch mit berühmten Gemälden an. Auf deinem Lieblingsbild, ›Die Geburt der Venus‹ steht eine Frau mit langem Haar auf der Schale einer Riesenmuschel. Das Haar hat etwa die Farbe von Tastycake Pumpkin Pie-Füllung. Da hast du beschlossen: Genau so würde deine Mutter ankommen. Hier unten, am Grund der Absecon-Bucht, würde sich eine Riesenmuschel öffnen, und Gott würde heraussteigen, an die Oberfläche schwimmen und die Leute fragen: »Wissen Sie, wo meine kleine Tochter ist? Julie Katz?«
»O ja, sie erwartet Sie schon! Gehn Sie nur zum Leuchtturm auf Brigantine Point.«
Jeden Abend, bevor du einschläfst, siehst du diese Szene vor dir: Gott erscheint im Hausflur in einem weißen Kleid, tropfnaß, das Haar mit Bändern aus Seegras hochgebunden. »Julie?«
»Mama?«
»Julie!«
»Mama!« Dann heiraten Vater und Mutter, und ihr alle lebt zusammen im Leuchtturm über dem Zoo der Kuscheltiere.
Etwas Weißes blitzt vom Grund der Höhle herauf. Du kommst heran, berührst es mit den Fingerspitzen. Etwas Hartes, tief eingegraben. Du wischst den Sand fort. Je mehr du freilegst, hoffst du, desto mehr ist noch auszugraben, bis schließlich eine Muschelschale zum Vorschein kommt; sie wird sich öffnen und heraus kommt…
Aber nein. Kein Himmelstor, sondern ein nacktes, weißes Gesicht von der Art, wie sie die Leute an Halloween aufsetzen. Augenloses Starren, lippenloses Grinsen. Du gräbst weiter. Alles da, jeder Knochen. Du schauderst. Vielleicht ein Seemann aus einem der Wracks, von denen Papa immer erzählt, einer, der mit der William Rose oder der Lucy II unterging. Du drückst seine Hand – rauh und hart wie eine Koralle. Du drückst fester. Fester…
Die Dinge müssen tot bleiben. Denn die da oben warten nur drauf, daß du Wunder tust. Wenn du Wunder tust, holen sie dich fort.
Die Rückkehr ist immer heikel. Du kannst nicht senkrecht hinaufschwimmen. Wenn der Strandwächter so
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