Die eingeborene Tochter
Phoebe sprach, preßte er die Hände in den feuchten Sand, im Gesicht ein verschwommenes Lächeln. Er war blind.
Julies Eingeweide zogen sich zusammen. Blind wie Samson. Blind wie ein Fels. Blind wie der Junge in Andrew Wyverns Spiegel. Nun kam Phoebe zurück, dahinter der Schimpanse, den blinden Jungen wie einen Wasserskiläufer im Schlepptau.
»Wir dürfen nicht mit dem Äffchen spielen«, erklärte Phoebe, als sie die Sandburg erreichte. Der Schimpanse roch nach alten Socken. Sein Pelz war filzig, die Augen feucht und gelb. »Er ist im Einsatz«, sagte Phoebe. »Er sieht für den Jungen und führt ihn.«
Der Sand in Julies Badeanzug kratzte am Hintern. Keine Wunder, sagte Pop immer. Sie würden sie wegholen.
»Ein Affe, kein Äffchen«, sagte der Junge. Sein Haar hatte die Farbe gekochter Karotten. Sommersprossen bedeckten das runde Gesicht. Die Augen lagen tief in den Höhlen und zuckten unablässig wie junge Rennmäuse in seinem Kopf. »Ein Schimpanse.«
Heile ihn, hatte Mr. Wyvern gesagt. Deine Mutter will es so… Der beste Freund deiner Mutter würde dich nicht anlügen…
»Tut mir leid«, sagte Phoebe. »Julie, das hier ist Arnold.«
»Arnold?« sagte Julie. »Ich dachte, er heißt Timothy.« Nicht der richtige blinde Junge? War sie aus dem Schneider?
»Ich bin Timothy«, sagte er. »Mein Schimpanse heißt Arnold.« Der Affe stank. Die Sonne brannte unerträglich heiß.
»Wieso weißt du, daß er Timothy heißt?« fragte Phoebe.
»Yeah – wie?« fragte Timothy.
»Gut geraten.«
»Wir sind dabei, eine Burg zu sprengen«, verkündete Phoebe stolz. »Leuchtkugeln, Bomben.«
»Ich wünschte, ich könnt ein Feuerwerk sehen«, sagte Timothy. »Das tönt so seltsam, so toll und verrückt.«
Keine Wunder. Ihre Mutter wollte, daß Timothy sieht. Sie würden sie fortholen… Wenn Timothy neue Augen hatte, würde ihre Mutter auftauchen? In einer leuchtenden Wolke vom Himmel herabsteigen, die Arme voller seltsamer und wunderbarer Geburtstagsgeschenke von jedem Planeten des Universums? Für Julie? Julie schaute flüchtig auf den Central-Pier. Die Kinderfrau schlief noch.
Ein Wunder, wußte Julie, erforderte mehr als bloßes Denken. Man brauchte Objekte. Materie. Um die tote Krabbe hinzukriegen, hatte sie die Farbstifte genommen. Um den blinden Jungen zu heilen… Sie nahm eine Handvoll Sand vom Hauptturm, spuckte drauf und warf ihn dem Jungen ins linke Auge. Arnold schrie auf. Timothy wich zurück.
»Halt still!« Der Junge erstarrte. Ein leichtes Summen kam aus ihrer Fingerspitze und umkreiste das tote Auge.
»Was machst du da?« fragte Phoebe.
»Ich mach ihn heil.« Ihr Puls raste, die Handflächen wurden feucht. »Glaub ich.« Sie nahm eine zweite Handvoll Sand und machte sich ans rechte Auge. »Halt still!«
»Du machst was?!« rief Phoebe.
Julie trat einen Schritt zurück und begutachtete den Jungen, als hätte sie ihn eben frisch aus Plastillin geformt. Er wischte den feuchten Sand weg und fuhr mit den Fingerspitzen über die Augenlider. Er blinzelte.
»Ich kann manchmal Dinge tun«, sagte Julie.
»Was ist los?« Timothy zitterte trotz der Augusthitze.
»Dinge tun?« Phoebe kicherte.
Timothys Augenlider flatterten wie Kolibriflügel. »Was ist denn hier los?« wiederholte er zähneklappernd.
Arnold drängte sich ängstlich zwischen die Mädchen, Julie spürte das Zittern unter dem warmen Fell an ihren nackten Beinen. Der milchig-starre Blick des Jungen ging hin und her: Mädchen, Affe, Mädchen. Kein Funken von Verstehen in seinem Gesicht. Mädchen, Affe, Mädchen. Ich hab versagt, dachte Julie. Mädchen, Affe, Mädchen. Ich sollte auf gut Glück… »Wer von euch ist Arnold?«
»Huh?« sagte Phoebe.
»Wer ist Arnold?« Timothy stieß den Zeigefinger in Phoebes Richtung. »Du bist’s nicht, oder? Du bist ein Mädchen, nicht wahr?«
»Verdammich!« rief Phoebe und tanzte verrückt umher wie ein Feuerwerkskörper aus dem Laden ihrer Mutter. »Mein Gott, Julie, du hast es getan! Du hast es wirklich getan, mein Gott!« Sie drehte sich um zu Timothy, tippte dem Affen auf den Kopf. »So sieht ein Äffchen aus, Kind. Mein Gott!«
»Affe.«
Julie atmete tief ein. Zwischen ihren Schenkeln spürte sie ein seltsam angenehmes Beben. Phoebe tanzte weiter. »Das ist wirklich toll, Katz! Damit können wir Geld machen! Wie, zum Teufel, machst du das?«
»Ich habe Kräfte«, sagte Julie.
»Kräfte?« fragte Phoebe. »Von wem denn?«
»Von Gott.«
»Kann ich die auch haben?«
»Ich bin Gottes
Weitere Kostenlose Bücher