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Die eingeborene Tochter

Die eingeborene Tochter

Titel: Die eingeborene Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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haben mir Augen gegeben!«
    Augen! Sein Sohn hatte Augen! Ein Junge mit Augen konnte Mitglied der Little League werden, einen Zirkus besuchen, seinen Vater auf der Kanzel bewundern; er konnte Skilaufen, Skateboard und ein Zehn-Gang-Rad fahren.
    »Wer?«
    »Die Engel! Die Engel haben mir Augen geschenkt!«
    Aber dann diese schreckliche Unterbrechung, Gottes Schweigen, das einen verrückt machen konnte, sieben lange Jahre ohne ein einziges Zeichen, ohne Bestätigungen vom Himmel. Billys theologische Instinkte sagten ihm zwar, Atlantic City sei in der Tat Babylon, doch bei jedem Besuch der Stadt blieb sein Phantomauge dunkel wie der Schweiß des Teufels.
    Er versuchte es in anderen Städten: Miami mit seinen Drogenbaronen, San Francisco mit seinen Sodomiten, New York mit seinen verdorbenen Jugendlichen, die einander zum Spaß umbrachten. Nichtig, nichtig, das war alles nichts. Warum wollte Gott ihm seinen Plan nicht enthüllen? Konnte Timothy sehen – und Billy nicht mehr?
    IHR, DIE IHR EINTRETET, LASSET ALLE HOFFNUNG FAHREN mahnte die blitzende Neonleuchtschrift über dem Eingang zu ›Dante’s‹. Billy holte tief Luft und ging durch die Vorhalle in das lärmende Casino. Einarmige Banditen und Computerspielkonsolen standen an den samtbespannten Wänden des oberen Kreises aufgereiht. Eine riesige Scheibe mit der Aufschrift RAD DES REICHTUMS drehte sich ratternd, löschte klickernd Zahlen und Hoffnungen. Schrilles Geklingel, Geldsturzbäche, Zigarettenrauch waberte durch die Luft und reizte Billys unversehrtes Auge zu Tränen – wenn hier nicht Babylon war, wo sonst?
    Er stieg hinab. Im zweiten Kreis führten Croupiers in blutroten Smokings den Vorsitz beim Blackjack. Weiter unten Croupiers mit Kleeblattabzeichen an den Rockaufschlägen, sie überwachten die Würfeltische. Billy erreichte den innersten Kreis, wo ein großes Rouletterad einen Haufen auffällig gekleideter Spieler in seinen Bann zog. Jeder hier schien sich heimisch zu fühlen; jeder schien eingeweiht in die inneren Abläufe – wo die Sicherungskästen waren, worauf sich die Wasserrechnung in etwa belief, wo die Teppiche ausgetauscht werden mußten – Billy würde das nie begreifen. Das Neue Jerusalem. New Jersey. Der richtige Ort für die Stadt Gottes. Sicher. Er hatte nachgerechnet: der Gartenstaat und der Staat Israel umfaßten exakt dieselbe Fläche – 7892 Quadratmeilen, je nachdem, wo man Israels Grenzen zog. Die Kugel rollte; das Roulette hielt an. Gelassen zählten die Spieler Gewinn und Verlust, setzten wie Vorstadtmatronen, die Ritz Crackers servieren, ganze Stapel neuer Chips.
    Und dann geschah es. Nach Jahren des Schlafs schaltete sich Billys Auge ein. Aus dem schwirrenden Rad kam eine körperlose Hand, trieb auf ihn zu wie die Seele eines abgetriebenen Fetus. Ein sich krümmender, bleichfleischiger Finger wies ihn hinaus aus dem innersten Kreis, durch die anderen Kreise, hinaus zur Ecke St. James und Pacific, zu einem Zeitungsständer im eisigen Licht einer Straßenlaterne.
    Billy warf zwei Vierteldollar in den Schlitz und zog ein Exemplar der Good Times. Bräunlich vergilbtes Papier. Foto einer jungen Frau, die ihn lüstern anblickte. Ihr Fleisch in gespenstischem Orangeton wie auf einem Farbfernseher aus den frühen Sechzigern. ›Trish‹ hieß die Schlagzeile. Das Negligée aus Saran-Faser. »Tel. 239-9999.«
    UND AN IHRER STIRN GESCHRIEBEN EINEN NAMEN, EIN GEHEIMNIS, DIE GROSSE BABYLON, MUTTER DER HUREREI UND ALLER GREUEL AUF ERDEN.
    Ein Zeichen! Nach so langer Zeit ein Zeichen! Denn wenn die große Hure aus Kapitel 17 wirklich in Atlantic City erschien, war es dann nicht jenes Babylon, das Gott auslöschen wollte? Billy prüfte die Möglichkeiten. Babs mit metallischer Unterwäsche und elektrisch rotem Haar. Gina mit dem ›eßbaren Pyjama‹, hoch gewölbte Augenbrauen. Kondensstreifen von Düsenjägern. Jenny, schwarz und anmutig wie Sulamith aus dem Hohen Lied. Beverly, mit üppigem Blondhaar, vollen Lippen, mit einem purpur und rot… UND DAS WEIB WAR BEKLEIDET MIT PURPUR UND SCHARLACH… ein purpur und scharlachrotes Nachthemd!
    Die Hand führte Billy zu einer Telefonzelle und wählte Beverlys Nummer.
    »Hallo?« Sanfte, gurrende Stimme.
    »Ich bewundere grade Ihr Bild«, sagte Billy.
    »Wie heißt du?«
    »Billy.«
    »Sollen wir uns treffen, Billy?«
    »Heute nacht, wenn das geht.«
    »Ich kann dich gegen Mitternacht dazwischenschieben, und ich wette, das macht dir auch Spaß, ihn dazwischenschieben, was? Du hast so ’ne

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