Die eingeborene Tochter
silberne Schachtel auf. Die eine Seite war mit Zigaretten gefüllt, auf der anderen Seite war ein Spiegel.
»Sie sollten nicht rauchen«, sagte Julie.
»Du hast recht. Abscheuliche Angewohnheit.« Er rieb die Warzen auf den Knöcheln. »Hemmt das Wachstum.« Sonnenlicht fing sich im Spiegel, dann erschien dichter Nebel darin, wie statisches Rauschen im Fernseher. Der Nebel teilte sich. Da stand ein Junge im Badeanzug. Er sah verloren und ängstlich aus. »Schau dir das Gesicht genau an. Eines Tages wirst du ihm begegnen.«
»Dem Jungen? Wann?«
»Schon bald.«
Der Junge im Spiegel blinzelte heftig. »Wie heißt er denn?«
»Timothy. Fällt dir irgendwas Seltsames an ihm auf?«
»Seine Augen…«
»Ja, Julie. Er ist völlig blind. Die Ärzte können ihm nicht helfen. Aber du könntest es.«
»Papa sagt, keine Wunder.«
»Ja, ich weiß. Dein Vater ist sehr klug. Aber in diesem einen Fall müssen wir eine Ausnahme machen. ›Bitte Julie darum, Timothy zu heilen‹ – das hat deine Mutter wörtlich gesagt.«
»Meine Mutter hat das gesagt?« Es war, als ob das Bier wieder die Zunge entlang in die Kehle liefe. »Aber sie werden mich wegholen.«
»Nicht nach gerade mal einem Wunder – nein.«
»Sind Sie sicher?«
»Der beste Freund deiner Mutter würde dir doch keine Lügen erzählen.« Mr. Wyvern lächelte. Seine Zähne glänzten wie neue Pennies. »Noch etwas. Erzähl deinem Vater nichts von unserem kleinen Treffen. Du weißt, wie wütend er werden kann.« Das Etui schlug klackend zu. »Vergiß nicht – der Junge heißt Timothy. Achte auf ihn. Unser privates Geheimnis.«
Und dann war er weg.
Julie blinzelte. Mann, Buch, Teeglas, Etui – nur noch eine feine, weiße Wolke, die sich über dem Clubsessel auflöste.
»Mr. Wyvern?« Vielleicht hatte sie nur geträumt. »Mr. Wyvern?« Ein leichter Windhauch, dann nichts mehr. Julie jagte durch die Turnhalle die Treppen hinunter, ihr Herz klopfte wie ein Basketball beim Dribbeln.
Phoebe war in der Empfangshalle und warf Steine auf den Kronleuchter.
»Weißt du, was grad passiert ist? Ich hab jemanden getroffen, der meine Mutter kennt!«
Ihre Freundin hatte ein Bündel dicker roter Knüppel unter den Arm geklemmt.
»He, was ist das?«
»Was glaubst du? Dynamit, Katz, wie in ›Kaboom‹. Damit wollen sie morgen das Gebäude morgen sprengen.«
»›Dante’s Casino‹ übernimmt«, erklärte Julie. »Besser, du gibst es zurück.«
»Zurückgeben? Bist du verrückt?« Phoebe ließ das Dynamit im Armee-Rucksack verschwinden. »So. Und wie ist das jetzt? Gewinne ich die Krumpets? Hast du was Tolles gefunden?«
»Eigentlich nicht.« Einen Geist. Ein magisches Zigarettenetui. Eine Botschaft vom Himmel. »Nein.«
»Wer kennt deine Mutter?«
Julie zuckte die Schultern. »Niemand Spezieller. Er riecht nach Orangen.«
»Schau, ich geb dir sowieso eins von den Krumpets. Vielleicht probieren wir noch ein bißchen von dem Bier.«
»Durch Phoebe lernte ich auch rosa Limonade kennen«, setzte Julie ihren Aufsatz fort. »Alles in allem könnte sich niemand eine bessere beste Freundin wünschen als Phoebe Sparks.«
Andrew Wyvern versieht den Angelhaken mit Lumricus latus, einem vierundzwanzig Fuß langen Wurm, den die Chirurgen der Hölle routinemäßig den Verdammten in die Eingeweide pflanzen. Dann legt er von Steel-Pier ab. Der Atlantik umschmeichelt den Schoner, der mitten in der Absecon-Bucht vor Anker liegt; läßt ihn wie eine Mutter, die ihr Baby wiegt, an der Ankertrosse sanft auf- und niedergleiten. Die Angelleine spannt sich, der Schwimmer geht unter. Wyvern langt nach der Rute, genießt das köstliche Pizzicato des zuckenden Fischkopfs.
Aber er ist nicht glücklich. Wohin er auch schaut – die Christenheit ist überall im Niedergang. Weder verbrennt sie Giordano Bruno, weil der behauptet, die Erde bewege sich um die Sonne, noch verbrennt sie Michael Servetus für die Behauptung, das Blut bewege sich durch die Lungen. Das Abschlachten der Azteken ist eine ferne Erinnerung, der Index Librorum prohibitorum ein vergessener Scherz, der Malleus maleficarum längst vergriffen. Von Pol zu Pol speisen Christen die Hungrigen und bekleiden die Nackten. Erst letzte Woche hörte Wyvern einen Baptistenbischof sagen, Töten sei eine Sünde.
Wahrlich, die sogenannte Apokalyptikersekte verspricht einiges, aber der Teufel traut dem nicht.
»Apokalyptizismus«, sagt er zum Fisch am Haken, »ist bloß Strohfeuer.« Nein, es müßte eine ganz neue Religion sein;
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