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Die eingeborene Tochter

Die eingeborene Tochter

Titel: Die eingeborene Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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Natürlich existiert sie. Die wirkliche Frage ist doch: Wie ist Gott? Was für eine Art Göttin ist das, die ihre einzige Tochter wie einen x-beliebigen marinierten Hering in ein Einmachglas stopft und sie ohne den geringsten Anhaltspunkt für ihre Mission auf die Erde schleudert? Was für eine Art von Göttin ignoriert eben diese Tochter weiterhin, auch wenn die, wie befohlen, einen blinden Jungen sehend gemacht hat? Sieben volle Jahre seit dem Timothy-Wunder – weder hat dich jemand fortgeholt, noch ist deine Mutter aufgetaucht.
    Den Abend, an dem du das zugegeben hast, wirst du nie vergessen. »Im Sommer vor drei Jahren hab ich etwas wirklich Schlimmes gemacht: Ich hab einem Kind Augen gegeben.«
    »Du hast was?« stöhnte dein Vater mit offenem Mund.
    »Gott wollte, daß ich’s mache, glaub ich.«
    »Sie wollte, daß du das tust? Hat sie dir das gesagt?«
    »Ich hatte eben diese Eingebung. Bitte, hau mich nicht!«
    Er haute dich nicht. Er sagte nur entschlossen: »Wir werden dir das ein für allemal austreiben« und schob dich in den Saab.
    »Was austreiben?«
    »Wirst du sehen.« Er fuhr über die Brücke nach Atlantic City.
    »Wo fahren wir hin?«
    »Wirst du schon sehen.«
    »Wohin?«
    »Meinen Freund von der Feuerwache besuchen.«
    Wie du weißt, hatten Pops Kumpel von der Feuerwache geholfen, deine Ektogenesemaschine mit Blut zu versorgen.
    »Mr. Balthasar? Mr. Kaspar?«
    »Und Herb Melchior. Sag mal, was war das für ein Gefühl, den Jungen zu heilen?«
    Wie ein Orgasmus, hättest du am liebsten gesagt. »Wunderschön.«
    »Ich wünschte, ich könnte mich auf dich verlassen.«
    »Du kannst dich auf mich verlassen.«
    Er fuhr auf den Parkplatz des Atlantic City Memorial Hospital. Da fiel es dir ein: Mr. Melchior hatte Lungenkrebs.
    Papa war nun ruhiger. »Wenn du willst, kehren wir um.« Du warst versucht zu sagen, ja, laß uns umkehren, aber diese Bemerkung von wegen ›sich verlassen können‹ hat dich schwer gestört. »Nein.«
    Ihr seid mit dem Lift die sechs Stock zur Krebsstation hochgefahren. Du bist durch die Kinderstation gegangen, hast den höllischen Korridor betreten. Was du da gesehen hast, war ein Stellungskrieg, war der Blick hinter die Linien – herumhastende Ordonnanzen, nach Luft ringende Opfer, Infusionsflaschen, die wie körperlose Organe schlaff herabhängen. Überall Schmerz. Er sickerte durch die Wände, verdunkelte die Luft wie ein Hornissenschwarm.
    »Warum ich?« fragte ein junger, spindeldürrer Schwarzer, den seine Mutter in den Besucherraum führte. »Warum wird mir nicht warm?« Er zog den Bademantel straff um den spindeldürren Körper.
    »Das ist gemein, Pop!«
    »Ich weiß. Ich liebe dich.« Er führt dich zu Zimmer 618. »Fertig?«
    Du hältst dich am Türpfosten fest. Dahinter zittern zwei vom Krebs gezeichnete Männer auf ihren Betten.
    »Wenn wir schon mal hier sind, können wir gleich Herbs Zimmergenossen mitbehandeln«, sagt Pop. »Hodgkin.« Dein Herz rast; flaues Gefühl im Magen, du machst einen kleinen Schritt zurück. »Dann gibt’s natürlich noch Zimmer 619. Und 620. Und 621. Und 622. Am Samstag fahren wir nach Philadelphia – eine Menge Kliniken. Nächste Woche dann New York.«
    »New York?« Du fühlst dich wie auf einem Eisberg; steuerlos und frierend dahintreibend.
    »Sodann Washington, Baltimore, Cleveland, Atlanta. Du hast die Welt nicht erschaffen, Julie. Es ist nicht deine Sache, sie in Ordnung zu bringen.«
    Noch ein Schritt zurück. »Aber…«
    Dann hat dich Pop an der Hand genommen, in den Besucherraum geführt. Die Mutter des jungen Schwarzen hatte ihn in eine Wolldecke gehüllt; gezittert haben sie und geweint.
    »Du hast die Wahl, meine Liebe.«
    Ihr seid zum todduftenden Naugahyde hinuntergefahren. Kahlköpfige Patienten starrten die Wände an.
    »Nimm die breite Straße, und du wirst im Elend gefangen enden.« Im Fernsehen gewann gerade der Herausforderer bei einer Spielshow eine Spanienreise.
    »Nimm die schmale Straße, und du wirst dein Leben leben können.«
    »Wieso soll es schlecht sein, Leute zu heilen?«
    Sein Gesicht wurde weiß vor Zorn. »Nun gut, nun gut«, knurrte er. »Wenn du schon so halsstarrig bist…!« Er nahm einen Zeitungsausschnitt aus der Brieftasche; gelb und brüchig wie eine Scheibe vertrockneter Käse. »Hör zu, Julie, ich will dich nicht beunruhigen, es muß nichts bedeuten – aber schau, als ich dich damals aus dieser Klinik mitnahm, hat sie kurz drauf jemand in die Luft gesprengt.«
    ›BABY-BANK

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