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Die eingeborene Tochter

Die eingeborene Tochter

Titel: Die eingeborene Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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ein Aufruhr?« Roger stolperte herein. Er zog sich grade die Hosen hoch. Bei Lucius erschien im Schritt der Hose ein großer Urinfleck. »Wir müssen sterben!«
    »Tu was, Katz!« Phoebe stellte die Lüftungsklappen auf off. Wie ein Matrose, der im U-Boot die Luken dichtmacht.
    »Was soll sie tun?« jammerte Lucius.
    »Sie hat Kräfte!« schrie Phoebe. »Sie ist Gottes Lieblingstochter!«
    »Gottes… was?« wollte Roger wissen.
    »Sie wird uns retten – das wirst du doch, Julie?«
    »Natürlich – sie wird uns retten!« stöhnte Lucius.
    »Natürlich wird sie uns retten!« keuchte Phoebe.
    Julie schaute nach oben. Natürlich – sie würde ihre Prinzipien verraten? Natürlich – sie würde scheinheilig Phoebe und die anderen retten, während die Herb Melchiors an Lungenkrebs starben? Natürlich – sie würde egozentrisch die Ramblin Girl heben, während ringsum der ganze Planet verblutete? Nein! So mies war sie nicht! »Mutter«, krächzte sie. Der Winnebago senkte sich weiter. »Mutter, es ist in deinen Händen!«
    Roger fiel auf die Knie. »Mein Gott, es tut mir herzlich leid, daß ich dich beleidigt habe«, betete er, »und ich verabscheue alle meine Sünden, weil ich den Verlust der Seligkeit und die Qualen der Hölle fürchte, aber am meisten…«
    »Mutter!« Julies Stimme nur noch heißer Hauch in der Kehle. »Mutter, das bist du mir schuldig!«
    Phoebe packte sie am Arm. »Keine Zeit, uns jetzt mit Religion zu kommen. Tu es!«
    »Mutter, deine letzte Chance!«
    »Tu es!« schrie Lucius.
    »Tu es!« drängte Roger.
    Es einfach tun? – Julie zwängte sich hinters Steuer, packte es mit beiden Händen. »Mutter, ich warne dich!« Sie schlug auf das Lenkrad ein. »Mutter!!«
    Und es ward Licht.
    Überall Licht. Es erfüllte den Bus, als ob der Schlamm sich in geschmolzenes Gold verwandelt hätte. Goldener Schein um das Lenkrad, der Schaltknüppel ein flammendes Schwert, das Tachometer ein leuchtender Komet. »Mutter, bist das du? Du?« Nun wandelte sich das Innere zu einem Reich umgekehrter Zeit. Scherben fügten sich wieder zu Teetassen, Blüten implodierten zu Knospen, Zeiger drehten sich gegen den Uhrzeigersinn… Und, wie ein Mammut, das sich aus einer Teergrube befreit, kämpfte sich der Winnebago durch Schlamm- und Sumpfschichten nach oben. »Mutter!« O ja, gewiß, dies war der Ur-Hermaphrodit, der die Schwerkraft von New Jersey abschälte wie ein Farmer die Hülsen von Maiskolben. »Danke, Mutter! Ich liebe dich, Mutter!« Nach einer Minute hatte Ramblin Girl Baumwipfelhöhe erreicht und schwebte als Helikopter über der Brücke.
    »Unglaublich!« keuchte Lucius.
    »Jesus!« schrie Roger.
    »Warm«, sagte Phoebe.
    Mit sachtem Bums landete der Bus auf der Brücke und kam zum Stehen. Drinnen hysterische Hochrufe, Balsam für Julies Ohren. »Gottverdammt, scheißunglaublich!«
    »Heilige Mutter Gottes!«
    »Wärmer.«
    Julie zitterte, erfüllt von der Offenbarung. Sie drehte den Zündschlüssel. Als listige, kleine Coda zum vorangegangenen großen Wunder sprang der schlammbepackte Motor sofort an. »Wohin?« fragte sie und grinste übers ganze Gesicht.
    »Zum Strand.« Phoebe strahlte vor Bewunderung und Stolz. Gottes Tochter beste Freundin. »Bloß weg hier.«
    »Leute, ich hab keine Ahnung, was hier eben passiert ist« – Lucius betrachtete den nassen Schritt seiner Hose –, »aber ich weiß, daß ich den Rest meines Lebens drüber nachdenken werde.« Er berührte vorsichtig Julies Ellbogen, als fürchte er einen Elektroschock. »Ich weiß natürlich nicht, ob du das kannst, aber…«
    »Was?«
    »Den Bus saubermachen?«
    »Nein!«
    »Ich dachte bloß…«
    »Auf keinen Fall!«
    Julie fuhr auf den Sandstrand hinunter und parkte. Das rauhe Rauschen der Brandung erfüllte die Nacht. Sie drehte das Fenster runter. Schlamm tropfte auf ihre Jeans. Ihr Blut war in Wallung, rauchte und brannte wie ein Ölfeuer. Irgendein dummes, blindes Kind zu heilen war nicht dasselbe, wie endlich die eigene Mutter zu finden.
    »Ich brauch frische Luft.« Phoebe erstickte Lucius mit einem sinnlichen, feuchten Kuß. »Du auch, Lucius.«
    »Du hast uns beinahe umgebracht, Phoebe«, grunzte Lucius. »Ich brauch Tage, um diesen Dreck abzuwaschen. Tage!«
    »Sie hat uns umgebracht!« keuchte Roger. »Und dann hat Julie…«
    Lucius und Phoebe bereiteten schnell ihre Orgie vor – Kondome, Six-Packs, Stranddecke –, sprangen aus dem Winnebago und verschwanden in der Aprilnacht. Also fühlen sie es auch, dachte Julie, den

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