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Die eingeborene Tochter

Die eingeborene Tochter

Titel: Die eingeborene Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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verrückt!«
    Julie nahm den Schädel, holte damit wie zu einem Freiwurf aus. »Meine Mutter hätte diesen Seemann retten können. Sie hat es nicht getan.«
    »Vielleicht hatte sie ihre Gründe.«
    »Vielleicht hab ich meine.«
    Julie streckte den Arm aus, drehte sich langsam um dreihundertsechzig Grad, dann noch einmal und noch einmal… »Schau doch, Phoebe, es hört nie auf. Immer nur rundum… für immer!«
    »Hast du was genommen?« Phoebe streichelte mit den Fingern über die schäbige Tür. Bei einem Foto hielt sie inne. Ein Dutzend Fünfundfünfzig-Gallonen-Fässer.
    Die lagen in einer Art Baugrube wie Blindgänger. Rosarotes Gift sickerte heraus. »Oh, verstehe…«
    »Ich meine, wo soll ich denn anfangen?«
    »Toller Platz für Drogen!« Phoebes Lachen klang spitz und unsicher wie das Jaulen eines Hundes, der auf Kommando bellt. »Davon gibt’s ’ne Menge, das kann ich dir versichern.«
    »Ein Mädchen wie ich könnte jede wache Minute mit Wunderwirken zubringen…«
    »Und nicht einmal die Oberfläche ankratzen«, sagte Phoebe versonnen. »Scheiße, das da ist stark!« Sie klopfte auf einen Ausschnitt aus People. Ein vierjähriger Junge hatte sechzehn Operationen durchgemacht und war doch gestorben. »Ich hab’s dir in letzter Zeit nicht leicht gemacht.«
    »Hm-hmm.«
    »Tut mir leid, Katz.«
    »Sollte es auch.«
    »Manchmal bin ich auf dich eifersüchtig. Blöd, nicht?«
    »Mein Leben ist kein Honiglecken.« Julie ließ sich auf den Boden fallen. Die Augen fest auf die äthiopischen Kinder mit den aufgeblähten Bäuchen und den streichholzdünnen Beinen gerichtet. »Erinnerst du dich, wie wir’s uns in diesem Hotel gemütlich gemacht haben? Ich wollte nicht, daß es Hungersnöte und Armut gibt, Phoebe, ich wollte bloß Bier, Tastycakes und dich.«
    »Oh, meine arme, kleine Göttin!« Phoebe ließ sich auf die Knie nieder und gab ihr einen herrlichen Kuß, mitten auf die Lippen, feucht und süß wie eine Wassermelone. »Du stehst unter einem Fluch, nicht wahr? Du bist innerlich ganz zerrissen.«
    Phoebe, liebe Phoebe: sie verstand. »Ich kann nicht gewinnen«, stöhnte Julie. »Wenn ich bloß etwas Eindeutiges sein könnte, Caterpillar oder Schmetterling, entweder das eine oder das andere. Meine Mutter sagt nie was zu mir. Ich weiß, wahrscheinlich hab ich irgendeine wunderbare, erderschütternde Bestimmung, aber Gott schweigt sich darüber aus. Sie sagt mir nicht, ob es einen Himmel gibt, ob ich einmal sterben muß, sie sagt überhaupt nichts!«
    »Aber du wirst mich immer liebhaben?« Der zweite Kuß – noch saftiger.
    »Und wohin du auch gehst, mich mit dir gehen lassen?«
    »Immer«, sagte Julie und dachte ernsthaft über die Lippen ihrer Freundin nach.
     
    In keinem der Kinos in der Stadt spielten sie das Doppelprogramm, das Roger anschauen wollte, ›Zehntausend Psychotiker‹ und danach ›Der Garten unirdischer Freuden‹. Also fuhren sie alle die ganze Strecke bis zum Kino in Somers Point an der’ Route 52. Roger, der neben Julie saß, war ungewöhnlich leidenschaftlich, tröstete sie während der Zombie-Angriffe – bei den Sexszenen ging er auf Tuchfühlung.
    »Ich hab ihm versprochen, nichts zu verraten«, hatte ihr Phoebe vorher eröffnet, »ich tu’s aber trotzdem, wozu hat man sonst Freundinnen? Sünde – das gibt’s für Roger nicht mehr! Gott, Satan, die Hölle – alles genauso weg wie die Zahnfee. Kurz: Wenn du bereit bist, ein Mädchen mit Vergangenheit zu werden – er ist bereit, dir eine zu verschaffen.«
    Phoebes Partner war an diesem Abend Lucius Bogenrief. Er hatte zwar die Gesichtsfarbe von Erdbeerjoghurt, Geruch und allgemeines Aussehen eines Hero-Sandwichs; aber er hatte auch Ramblin Girl, den Winnebago seiner Familie, eine Art Landjacht mit Kitchenette, Bar und Schlafzimmer. Als sie nach der Vorstellung durch die Vorhalle schlenderten, zog er die Autoschlüssel heraus und überreichte sie Phoebe mit großem zeremoniellen Getue. »Ihr Pilot heute abend ist Captain Sparks!«
    »Manche Leute lassen sich einen guten Blasjob eben etwas kosten«, erklärte Phoebe augenzwinkernd. »Die ganzen neunundsechzig Yards, eh?«
    Roger duckte sich und zog es vor, die ›Zehntausend Psychotiker‹-Plakate zu studieren. Julie spürte Eis in den Kiemen. Phoebe und Autofahren? Heut war doch Sex angesagt! (Und nicht, bei einem Unfall draufzugehen.) Sie zwängten sich in den Winnebago. Lucius auf dem Beifahrersitz. Phoebe packte das Lenkrad wie die Haltegriffe in der Berg-und-Tal-Bahn.

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