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Die eingeborene Tochter

Die eingeborene Tochter

Titel: Die eingeborene Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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zeigte. Mit schmalen, straffen Lippen, Drahtbrille und Kropotkin-Hemd sah er aus wie Tom Courtney als junger Revolutionär Pascha Antipov in Julies Lieblingsfilm ›Doktor Schiwago‹. Roger Worth war nett gewesen – von geradezu betäubender Nettigkeit –, aber hier war ein Mann, vom Hauch der Gefahr umwabert, ein Mann, der in Abgründe blickte.
    »Unglücklicherweise hat sich die Horoskopler-Meute den Ausdruck ›Astrologie‹ unter den Nagel gerissen – bleiben wir halt bei ›Astronomie‹ – ›Anordnung der Sterne‹.«
    »Das interessiert mich wirklich.« Julie wischte einen Karton mit der Aufschrift »Elementarteilchen« ab.
    »Physik?«
    »Physik, Biologie, Sterne, das alles.«
    »Das ist gut«, sagte Howard. »Heutzutage ziehen es die meisten Leute vor, sich das Hirn mit Mystizismus zu vernebeln.« Was für ein sinnlicher Mann, gespannt wie eine Violinsaite, dabei würdevoll wie eine Katze. »Du bist eine ungewöhnliche Frau, Julie.«
    »Meine Mutter ist Ingenieurin«, sagte sie.
    Howard drehte seinen Osmiroid-Bleistift heraus und schrieb ihr eine Liste auf einen Streifen abgerissenes Computerpapier. »Hier sind ein paar Vorlesungen, die du besuchen solltest.« Es war das erstemal, daß Julie jemanden kalligraphisch schreiben sah; die Liste sah aus wie in Druckschrift. »Wirst du aufregend finden, glaub ich.«
    Und wie! Julie machte Abstecher in Quantenmechanik 101, Astrophysik 300 und Probleme der Makroevolution, um Howard zu gefallen, aber sie hielt jeden Kurs durch – hing doch ihr Seelenheil davon ab.
    Was Julie in der Wissenschaft fand, war nicht so sehr ein atheistisches Universum, als vielmehr eines, aus dem sich die Göttin nach dem Schöpfungsakt – widerwillig zwar, aber doch mit einer gewissen Folgerichtigkeit – zurückgezogen hatte. Das Universum war Materie. Energie, Teilchen, Zeit, Gravitation, Elektromagnetismus, Raum: alles Materie. Wie konnte dann ein Wesen aus reinem Geist in einen völlig physikalischen Bereich eintreten? Konnte es nicht. Die Gottheit der Physik war gezwungen, Wohnung im Unbekannten zu beziehen, im Universum außerhalb des Universums, an einem Ort, den der menschliche Geist nie erreichen würde, ehe nicht alles in Hitzetod und wimmerndem Wasserstoff vergangen war. Die Gottheit der Physik konnte ein zufälliges Ei oder Spermatozoon in die Milchstraße einschmuggeln, aber nicht ihr körperloses Wesen. Sie konnte der Welt ihre Kinder offenbaren, aber nie sich selbst.
    Die Wissenschaft erklärte sogar die offensichtliche Realität übernatürlicher Dimensionen – Himmel, Limbo, Fegefeuer, das Glutreich Andrew Wyverns. Die sogenannte Kopenhagener Interpretation der Quantenmechanik verlangte praktisch den Glauben an unvereinbare alternative Wirklichkeiten.
    »Eine Myriade sich widersprechender Welten«, dozierte Prof. Jerome Delacato, »die sich wie die Äste eines Baumes für immer voneinander fortentwickeln, so daß ich z. B. irgendwo da draußen in diesem Augenblick eine Vorlesung halte, in der ich erkläre, daß die Viele-Welten-Hypothese unmöglich wahr sein kann.«
    Trotzdem blieb Julies Zorn. Während sie in der efeugeschmückten College Hall saß und Delacatos wilde Theorien niederschrieb, zitterte sie vor Abscheu. Eine Mutter sollte man berühren können. Auch wenn die Kluft zwischen ihnen so breit war wie der ganze Kosmos, sollte die Gottheit doch versuchen, sie zu überwinden.
    »Das beobachtbare Universum ist 10 Milliarden Lichtjahre groß, richtig?« fragte sie Howard. »Oder, wie Dirac feststellte, Eins mit vierzig Nullen mal größer als ein subatomares Teilchen. Aber sieh mal: das Verhältnis der Gravitationskraft von Proton und Elektron ist ebenfalls eine Eins mit vierzig Nullen! Das impliziert doch einen Schöpfer. Vielleicht einen sich sorgenden, persönlichen Gott.«
    Er musterte sie mit einer Mischung von Irritation und Mitleid. »Nein, es bedeutet schlicht, daß der Kosmos zufällig grad diese Größe hat.«
    »Ich habe gute Gründe, an die Existenz Gottes zu glauben.« Julie unterdrückte ein Grinsen. Ihr perfekter Chef, der so sexy aussah, wußte überhaupt nichts.
    »Schau, Julie, solche Dinge diskutiert man am besten bei Essen und Trinken; am besten in einem Restaurant. Magst du griechisches Essen?«
    »Oh, ich liebe griechisches Essen!« Sie konnte griechisches Essen nicht ausstehen. »Ich bin ganz verrückt danach.«
    So wurden sie ein Paar. Es war blöd und es war reizend. Freund und Freundin. Händchenhalten. Kino, Rodin-Museum,

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