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Die eingeborene Tochter

Die eingeborene Tochter

Titel: Die eingeborene Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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Schlimmeres genannt.« Wyvern schlug die Kutte zurück und zog das silberne Zigarettenetui hervor. »Wir sind, was wir sind, nicht wahr, mein Kind? Zwei einsame Seelenfänger. Zwei Seiten derselben Medaille.«
    »Warum wollen Sie, daß Timothy gesund ist?«
    Wyvern ließ das Etui aufspringen und hielt es Julie vor die verweinten Augen. »Tugend ist von großem Interesse für mich. Ich war neugierig, was passieren würde. Schau…« Im Spiegelglas stand ein schattenhafter Mann auf der Kanzel in einer überfüllten Kirche und hielt eine donnernde Predigt. »Timothys Vater. Du würdest ihn nicht mögen. Völlig fanatisch. Verwechselt Migräne mit Gott.« Der Prediger stapfte im Mittelgang auf und ab, zeigte seiner Gemeinde etwas, was wie ein purpurnes Nachthemd aussah. »Jahrelang fürchtete er, seine Visionen entspringen einfach seinem Hirn, aber jetzt hat sein Sohn zwei neue Augen, und nun ist er richtig inspiriert. Glaub mir, dieser Mann wird eines Tages etwas Böses tun.«
    »Wie böse?«
    »Vollkommen böse.«
    »Und mein Wunder…«
    »Hat ihn inspiriert.«
    »Ich werde nie wieder jemanden heilen.«
    »Gut für dich.« Der Teufel grinste. Seine Goldzähne funkelten im Laternenlicht.
    »Ich werde mein eigenes Leben führen. Heirat, Kinder, Karriere, das alles.«
    »Natürlich wirst du das. Welch ein Erbe, von einem guten, klugen Juden aus Gott gezeugt! Hast du schon ein College ausgesucht?«
    »Princeton.«
    »Wenn ich dir einmal helfen kann – frag nur.«
    »Nicht nötig.«
    »Keine Probleme? Keine Fragen? Brauchst du vielleicht eine Empfehlung?« Wyvern schloß das Etui. »Ich kann dir sagen, warum das Universum aus Materie besteht, und nicht aus Antimaterie. Ich kann dir sagen, warum das Elektron diese bestimmte Ladung trägt. Ich kann dir sagen…«
    »Etwas gibt es…«
    »Schieß los!«
    »Meine Mutter…«
    Wyvern schraubte den Docht der Lampe herunter. Die Flamme wurde durchsichtig.
    Und er auch.
    »Alles geht auf sie zurück, nicht wahr?«
    »Warum kümmert sie sich dann nicht um die Menschen?« Der Frühlingswind trocknete Julies Tränen. »Warum all diese Krankheiten und Erdbeben?«
    Eine letzte Drehung der Stellschraube, und Wyverns Gestalt wurde zu geisterhaftem Dunst. Die Laterne erlosch und bohrte sich in den Sand.
    »Die Schlammflut in Kolumbien?«
    »Yeah. Die Schlammflut. In Kolumbien.«
    »Wirklich, die Antwort ist ganz einfach.« Im nebligen Dunst trieben nur noch zwei rote Augen.
    »Wirklich? Sagen Sie’s mir! Warum erlaubt Gott das Böse?«
    Die roten Augen verschwanden, zurück blieben nur die Laterne und die schwarze Nacht. »Weil Macht korrumpiert«, flüsterte Wyverns körperlose Stimme. »Und absolute Macht korrumpiert – absolut.«

 
5. Kapitel
     
    Die Princeton University lehnte Gottes Tochter ab, aber von Wesleyan, Antioch und der University of Pennsylvania erhielt sie Zusagen; von Vassar außerdem eine Bestätigung, daß sie auf der Warteliste notiert sei.
    Obwohl Julie Penn favorisierte – Ivy League, die große Stadt, nicht weit nach Hause –, mußte sich ihr Vater schon wegen seiner Spenden an das wiedererrichtete und verlegte Preservations-Institut nach der Decke strecken. Die Vorstellung, sich erhabenen College-Obliegenheiten zu widmen, während er sich abrackerte, ließ sie zögern. Die Zwickmühle löste sich von selbst, als die Beihilfestelle der Pennsylvania University ihr ein volles Stipendium zugestand; verbunden mit einem Job in der Universitätsbuchhandlung. Eine Woche nach ihrem Geburtstag beluden sie und ihr Vater den Saab mit den gesammelten Überbleibseln ihres verworrenen Lebens – Basketball, CD-Plattenspieler, Curlingeisen, das ganze Zeug. Dann überquerten sie den düsteren, glanzlosen Delaware und fuhren nach Philadelphia hinein.
    College, verdammt. Von der Mutter im Stich gelassen. Und diese Göttlichkeit als Bürde. Aber bis zum College hatte sie es immerhin geschafft. An Halloween bebten ihre Kiemen plötzlich unter romantischen und unzüchtigen Sehnsüchten. Howard Lieberman – so hieß er – war sowohl ihr Chef in der Buchhandlung, als auch Biologie-Hauptfächler am Preservations-Institut, wo er Spermaproben von Makaken sammelte. Er übertrug ihr die Verantwortung für die wissenschaftlichen Bücher:
    Basic Physics, Principles of Geology, Primate Psychology, Physical Anthropology, Introduction to Astronomy. »Natürlich sollte es korrekt ›Astrologie‹ heißen – ›die Lehre von den Sternen‹«, erklärte Howard, als er ihr den Lagerraum

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