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Die eingeborene Tochter

Die eingeborene Tochter

Titel: Die eingeborene Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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zum zweitenmal an diesem Abend, starb er.
    »Papa! Papa!«
    Kein Puls. Keine Atmung.
    »Papa!«
    Pupillen erweitert. Und starr.
    Kein Lazarus II. Keine Auferstehung. Bloß diesen schmerzlichen Aufstieg zum Leuchtfeuer. Geh ins Leben. Gut. Würde sie tun. Sie war nicht gesandt, den Tod zu bekämpfen; Wiedergeburt war nicht ihr Auftrag. Sie würde den rückwärtsgewandten Spiegel meiden, sich auf der Straße halten, die in die Zukunft führte. Sie würde leben. In ihrer Zeit.
    Sie wußte, die Zündhölzer waren im Blechkasten unter dem Leuchtfeuer. Sie stellte die Linsen senkrecht und zog den Uhrwerkmotor auf. Genug Kerosin? Er ließ den Tank doch immer voll?
    Sie riß ein Streichholz an, drehte den Handgriff. Der Hauptdocht erhob sich wie eine Kobra aus dem Korb, berührte die Streichholzflamme, fing Feuer. »He da, William Rose!« keuchte sie, spie Worte wie verfaulte Zähne aus. »Diesmal… wirst du’s… schaffen…« Sie richtete die Linsen aus. Der Bleikolben senkte sich herab, preßte Kerosin in die Dochtkammer. Jenseits des Tränenschleiers brannte hell das Leuchtfeuer.
    Und nun die Buße. Qual, aller Menschen, die ihre Väter verlieren. Hast du unser Licht gesehen, altes Schiff? Tränenblind streckte sie die rechte Hand aus und preßte sie fest auf den heißen Mantel. Entsetzlicher, unglaublicher Schmerz, aber sie hielt es aus, bis sie verbranntes Fleisch roch, schrie, bis sie glaubte, die Kehle müsse ihr bersten. Hast du heimgefunden? Schluchzend zog sie die rauchende, blasenüberzogene, gefolterte Hand weg. Hast du heimgefunden?
     
    Durch irgendein Wunder überstand sie den Tag. Obszöne Einzelheiten. Anruf beim Leichenbestatter. Zweiter Anruf beim Leichenbestatter, als er nicht auftauchte. (Er hatte Brigantine Point mit Brigantine Quai verwechselt.) Sie schleppte sich zum Atlantic City Memorial Hospital, wo sie ihr die Hand salbten und verbanden, Antibiotika gaben und ermahnten, sich von Kerosinlampen fernzuhalten. Die Trauerliste war nicht lang – Phoebe, Georgina, Freddie Caspar und Rodney Balthasar. Herb Melchior war schon vor sechs Jahren an Lungenkrebs gestorben.
    »Der dumme Mensch wollte mich heiraten!« schluchzte Georgina am Telefon. »Hört sich an wie die Idee zu einer schlechten Fernsehshow, nicht? Ja, Bernie, der alternde Bücherwurm und seine schwule Freundin… Er läßt ihr die Frauen, obwohl er heimlich eifersüchtig ist, und da sind noch die beiden Kinder, und… Du meinst, du hast ihn einfach sterben lassen? Du hast gar nichts getan?«
    »Ich hab’s versucht.«
    »Dann versuch’s wieder! Renn rüber zu der Scheißaufbahrungshalle und weck ihn auf! Jetzt, sofort!«
    »Er würde das nicht wollen.«
    »Aber ich will’s. Und du auch.«
    Julies Magen verwandelte sich in einen eisigen Brunnen. Grausames Jucken in der verbrannten Hand. »Ich soll ein normales Leben führen, Georgina. Das war sein großes Ziel.«
    Georgina weinte eine volle Minute lang. Julie sah förmlich die Tränen vom Hörer tropfen und auf dem Boden der Telefonzelle aufschlagen.
    »Hör zu, Julie, wir müssen das richtig machen. Ich denke, wir sollten unsere Kleider zerreißen, und dann sitzen wir bis nächsten Montag auf diesen kleinen Schemeln. He, ich wäre so froh, wenn ich das für ihn tun könnte, Honey!«
    »Nicht das Richtige für Pop, glaub ich.«
    »Aber wir müssen irgendwas tun… Wie geht’s dir denn, Baby?«
    »Ich bin einsam. Eine Waise.«
    Schlußendlich hatten sie ihn einfach eingeäschert. Die kleine, schweigende Prozession – Julie, Phoebe und Georgina – trug die Urne über die Wiese beim Leuchtturm hinunter bis ans Ende der Mole. Julie sprach Kaddisch. Dann nahm Georgina ein Erdnußbutterglas mit einem zweiten Aschenhäufchen heraus. Sie hatten sein Exemplar von ›Huckleberry Finn‹ verbrannt. Phoebe öffnete die Urne und schüttete den Inhalt des Glases hinein. Sie vermischte alles mit einem Küchenmesser, verband so Murray Katz mit seinem Lieblingsbuch.
    »Ich hab ihn immer gern gehabt«, sagte Phoebe, schloß die Urne und übergab sie Julie. »Er war ein Vater, wie ich ihn mir immer gewünscht hab, obwohl er glaubte, ich hätt einen schlechten Einfluß auf dich gehabt.«
    »Du hast einen schlechten Einfluß auf mich gehabt«, sagte Julie. Mit der verbrannten Hand öffnete sie die Urne und warf einen flüchtigen Blick auf die dunklen, zarten Partikel, die von ihrem Vater übrig waren. »Ach, Pop…«
    Phoebe und Georgina verschwanden im Nebel. Julie blieb allein mit der monotonen,

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