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Die eingeborene Tochter

Die eingeborene Tochter

Titel: Die eingeborene Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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Miss.«
    Sie kam auf ihn zu und hielt ihm einen Manila-Umschlag hin. Rohes, weißes Narbengewebe bedeckte ihre rechte Handfläche wie ein Kaugummipolster. »Lesen Sie das!«
    »Ich hab zu tun…«
    »Meine Kolumne – eigentlich die Einleitung. Ich kann erst Ratschläge geben, wenn ich meine Grundsätze dargelegt habe.«
    »Wir haben eine Ratgeberkolumne.«
    »Meine ist anders – eine Art Bund. Ich will die Massen von der Nostalgie befreien. Ihre Zeitung gehört zu den wenigen, die sie überhaupt lesen.«
    »Nicht genug Massen.«
    »Ich könnte meine Botschaft natürlich über den Scientific American oder den Skeptical Inquirer verbreiten, aber warum den Bekehrten predigen?« Wieder dieses laszive Lächeln. »Mein Bruder Jesus hat einen großen Fehler gemacht. Er hat überhaupt nichts Schriftliches hinterlassen.«
    »Ihr Bruder wer?«
    »Jesus Christus. Eigentlich Halbbruder.«
    »Jesu Schwester, eh?« Bix trank seinen Kaffee. Jesu Schwester: das, allerdings, war was Neues.
    »Mit Maria verwandt?«
    »Nein, mit Gott.« Sie klopfte ihm wohlwollend auf die Schulter. »Schwer zu glauben, ich weiß. Kann es selber kaum glauben.«
    Bix hatte den größten Teil seines Erwachsenenlebens im Umgang mit selbsternannten Heiligen und Heilanden verbracht. Mit Geistheilern, Wahrsagern, Leuten mit Kristallkugeln, mit Medien. Mit Leuten, die ihre Ferien auf der Venus verbrachten und ihre Forschungsjahre in der Astralsphäre. Und nun kam diese Frau mit so einer ungeheuerlichen Behauptung – dabei hatte sie mit der durchschnittlichen Visionärin soviel Ähnlichkeit wie ein Intimreport mit einem Orgasmus.
    Er sagte: »Wenn Sie vielleicht den Kaffee in Gin verwandeln könnten…?«
    »Sind Sie Agnostiker, Mr. Constantine?«
    »Allerdings.« Er ließ frischen Kaffee in den Becher. »Seit einem bestimmten Tag – interessiert Sie das?«
    »Mein Lieblingsthema.«
    »Eines Tages nahm ich das Baby meines Cousins auf den Arm und erkannte plötzlich, daß dieses rührende, unschuldige Wesen irgendwann bei einem Autounfall sterben oder Leukämie kriegen kann – in diesem Augenblick der Offenbarung wurde ich zum Atheisten. Sozusagen mein Damaskus-Erlebnis.«
    Vor allem: Sie lachte. Er nahm es als spontane Äußerung amüsierter Zustimmung. »He, wenn ich nicht selber göttlich wär«, sagte sie, »wär ich vielleicht auch Atheistin!« Julie Katz schloß langsam die Hand um den Kaffeebecher – eine Geste, die ihm ebenso erotisch wie zärtlich vorkam –, führte ihn zum Mund, während er den Becher immer noch festhielt, und nippte daran.
    »Ist bestimmt logischer.«
    Ich hab mich verliebt, dachte Bix. Er öffnete den Manilaumschlag, zog einen Brief heraus. Nur eine Seite, dran geheftet ein Schwarzweißfoto der Verfasserin.
     
Liebe Moon-Leser!
     
    Gott existiert! O ja! Ich kann’s beweisen! Stellen Sie sich das vor!
     
    »Was für einen Beweis?« werden Sie fragen. Stellen Sie sich vor, wie eine weibliche Eizelle aus den Regionen jenseits der Wirklichkeit durch Raum und Zeit heruntersaust, mitten durch die Wände einer gläsernen Gebärmutter – mitten hinein in die Samenspende eines jüdischen Einsiedlers. So kam ich in die Welt: Ja, ich bin es selbst. Gottes Tochter. Kann Wasser atmen, bin verwandt mit Jesus, kann die Existenz Satans bezeugen, Vertraute der Fische und Glühwürmchen. Beweis!
    Und nun die schlechte Nachricht: Wie alle göttlichen Wesen bin ich ein Kind meiner Epoche. Ich lebe in meiner Zeit, in diesem Fall im verwirrenden und unsicheren zwanzigsten Jahrhundert. Tut mir leid. Ich würde Sie gern mit schönen Versprechungen von Heilung und Unsterblichkeit trösten. Das kann ich nicht. Aber Gott existiert! Denken Sie dran!
     
    Haben Sie Schmerzen? Ich verstehe. Erschreckt Sie der Gedanke an den Tod? Erzählen Sie mir davon. Hat Ihnen die Ehe, die Karriere Enttäuschungen gebracht, die Sie sich nicht hätten träumen lassen? Sie sind nicht allein. Ich warte schon auf ihre Karten und Briefe und was es sonst an Erinnerungsstücken gibt, von denen Sie glauben, sie könnten mir helfen, Ihr Leiden zu verstehen. Zusammen werden wir die Herrschaft der Nostalgie vom Thron stürzen!
    In Liebe
    Sheila, Gottes Tochter
     
    »Nun? Was halten sie davon?«
    Was hielt Bix davon? Er glaubte, daß Julie Katz den Keller des Moon umgegraben und eine Kiste mit spanischen Golddoublonen gefunden hatte. Das war nicht ASW oder das Ungeheuer von Loch Ness oder der Junge, der Piranhas in den Swimmingpool kippte, weil er sie für Goldfische hielt,

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