Die eingeborene Tochter
schrumpfte auch äußerlich. Schwebte gleichsam herein, wie vom Wind getragen. »Welcher Art mein Amt auch ist«, schrieb sie, »ich werde nur einen Bund der Unschärfe stiften, ein Königreich des Wandels verkünden.« Wie um eine verirrte Spinne zwischen den Seiten zu zerquetschen, schlug sie das Buch zu.
»Ich mach den Leuchtturm an«, sagte Pop. Er zog den Gürtel des häßlichen tartangemusterten Morgenrocks fest zu. »Körperliche Betätigung ist gut für Herzpatienten.«
»Was willst du tun?« stieß sie zwischen den Zähnen hervor. Seine Spinnereien verloren entschieden an Reiz, je älter er wurde. »Lucy II?«
» William Rose, glaub ich. Ist das Julie?«
»Das weißt du doch, Papa…«
»Wenn du Julie bist, muß es die William Rose sein.«
»Hast du dein Inderal genommen?«
»Hmm-hmm.«
»Das Lanoxin? Das Quinidin?«
»Hab ich, hab ich doch. Und Kiwi-Saft von Georgina.«
Er schlurfte hinaus.
»Die Tragödie unserer Spezies«, schrieb Julie, »liegt darin, daß wir nicht in unserer eigenen Zeit leben. Homo sapiens ist auf den rückwärtsgewandten Spiegel der Geschichte fixiert, er schaut nie auf die Straße, die in die Zukunft führt; er ist versessen darauf, ein angeblich verlorenes Paradies wiederzuerlangen, ein mutmaßliches goldenes…«
Sie hielt inne. Papa stieg eben zum Leuchtfeuer hinauf. Körperliche Betätigung war gut für Herzpatienten, aber… hundertsechsundzwanzig Stufen?
»Die menschliche Rasse zerstört sich selbst durch Nostalgie«, schrieb sie weiter.
Der Stift fiel ihr aus der Hand. Hundertsechsundzwanzig Stufen. Sie rannte hinaus, ohne das Tagebuch zu schließen.
Pops starre Augen: wie eingefroren, doppelt so groß wie normal, nach oben verdreht. Julie hatte seit Timothy niemanden mehr so starren gesehen. Er lag im Treppenhaus an der dritten Biegung, Hände auf die Brust gepreßt, als wolle er sein erstarrtes Herz ins Leben zurückmassieren.
Sie rannte.
Pfadfinderlager, 1985. Verdienstabzeichen, Erste-Hilfe-Kurs. Und nun – Herzmassage und Beatmung. Groteske Details am toten Körper: schwarze Haare wucherten in den Nasenlöchern, klaffende Poren auf den Wangen. Stoßen, stoßen, stoßen, beatmen. Stoßen, stoßen, stoßen, beatmen. Als sie elf war, hatte er damit begonnen, Schnappschüsse aus dem Photorama nach Hause mitzubringen, sie legten sie dann auf dem Küchentisch aus. Die Frauen mit emotionalen Problemen, also solche, die zerstückelte Kleiderpuppen oder bis zum Hals im Schlamm vergrabene Teddybären fotografierten, wurden automatisch disqualifiziert, ebenso Kandidatinnen, bei denen Liebhaber, Ehemänner oder ein Haufen Sprößlinge auf den Filmen waren. Stoßen, stoßen, stoßen, beatmen. »Wie ist’s mit der, Julie?«
»Schaut irgendwie mürrisch aus.«
»Hier ist aber eine Hübsche.«
»Nee…« Stoßen, stoßen, stoßen, beatmen. Kein Lebenszeichen. Keine aus dem Dutzend, die sie halbwegs akzeptabel fanden, war bereit, sich auf Papa festzulegen. Stoßen, stoßen, stoßen, beatmen. Und dabei war er so aufrichtig, so wohlmeinend: ja, er wünschte sich eine Gefährtin für sich selbst, aber vor allem wünschte er sich eine Stiefmutter für seine Tochter.
Nun meldeten sich ihre Instinkte, das mütterliche Erbe. Sie mußte ihm nur die Hand aufs Brustbein legen, und sein Herz würde wieder schlagen. Und warum nicht? Niemand würde den Eingriff sehen, kein Baby-Bank-Terrorist würde je davon erfahren. Schlag wieder. Und schlag. Und…
Überleg es dir genau, hatte er gesagt. Wiedererweckung war kein Kinderspiel, keine einfache Sache, wie eine tote Krabbe mit Buntstiften zu pieksen. Es wär eine Herzreparatur; ganz klar. Und wenn sein Zentralnervensystem zerstört war, nicht mehr durchblutet, ein Durcheinander aufgefaserter Synapsen, Wirrwarr vertrockneter Dendriten. Bring das halt auch in Ordnung.
Und dann? All die Ablagerungen aus den Venen und Arterien rausputzen? Ja, aber damit fing es doch erst an! Pop hatte recht: in dem Moment, da du die Welt neu schaffen mußt – in dem Moment mußt du Gott sein.
Und doch – sie mußte es versuchen. Schlag! Und schlag! Und schlag! Und plötzlich kam da was zurück ins Leben, halb Pop, halb krampfhaft blinzelnde, gelähmte Kreatur, Parodie auf das Leben.
»G-g… ge…«, krächzte das Wesen.
»Papa? Ja, Pop, was?«
»G… ge… geh. Geh…«
»Gehen? Wohin gehen?«
»Ins L… Leben.«
»Leben?«
»G… geh… ins…«
Schrilles wäßriges Pfeifen aus dem Mund wie bei der Dampforgel am Steel-Pier. Und dann,
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