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Die eingeborene Tochter

Die eingeborene Tochter

Titel: Die eingeborene Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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gefühllosen Brandung. War die Bestattung richtig gewesen? Hätte ihn die unjüdische Einäscherung nicht beleidigt? »Zu spät«, murmelte sie und begann ihre schwarzen Kleider auszuziehen, Stück für Stück, bis sie nackt auf den Felsen stand. Sie drückte die Urne unter ihre Brüste und sprang in die See.
    Im Anfang war das Wort. Und das Wort ward Fleisch und wandelte unter uns.
    Ihre schlagenden Kiemen zogen Sauerstoff aus dem Wasser der Bucht. Unzählige Gallonen Wasser – aber das Wasser konnte die Säuretränen nicht verdünnen und ihre Schuld nicht abwaschen. Zwei Jahrzehnte schon trug sie ihre leibliche Hülle; doch in all der Zeit hatte sie dem weithin zerstörten Planeten nicht ein Atom an Gutem hinzugefügt.
    Sie erreichte den Grund und begrub rasch die Urne. ›Die Abenteuer von Huckleberry Katz.‹
    Im Anfang war das Wort, aber Gottes Wortschatz würde sich nun vergrößern. Das erste Wort war ein englisches Hauptwort, ›savior‹, Heiland, doch das zweite würde ein französisches Zeitwort sein: savoir, wissen: auf lange Sicht, Julie, hatte Howard immer gesagt, können wir Dinge wissen. Noch drei Jahre College, dann würde sie sich einen word processor kaufen (nein, einen Wortprozessor) und ihren Bund der Unbestimmtheit, ihr Königreich des Wandels offenbaren, das Reich der Nostalgie zu Fall bringen – die Wahrheit des Herzens lehren. Das Herz eine Pumpe? Ja, wahr genug, wenn man eines nicht vergaß: in diesem Augenblick der Geschichte ist eine Pumpe eben die beste Metapher für das, was das Herz wirklich ist.
    Sie stampfte die Erde auf dem Grab fest; kleine Sandwirbel stiegen auf.
    Und die Niere war ein Filter. Die Erde umkreiste die Sonne. Mikroben verursachten Krankheiten. Ja! Die Zeit ihres Amtes stand bevor. Sie würde weder die breite Straße gehen noch die schmale. Einen Seitenweg eigener Machtvollkommenheit würde sie gehen. Sie würde ihre Botschaft auf jeden Bildschirm strahlen, in jedes Tonband ätzen, auf jede gedruckte Seite schmieren. Im Anfang war das Wort, und am Ende würden es eine Million Worte sein, zehn Millionen Worte, hundert Millionen Worte, alle verfaßt von Gottes eingeborener Tochter selbst.

 
     
     
Zweiter Teil
     
     
Atlantic City
Messias

 
6. Kapitel
     
    Bix Constantine – mürrisch, dick und offenherzig – hatte die Welt immer so gesehen, wie sie war, und nicht wie die Leute sie sich wünschten.
    Schon während der Vorschule dachte er über die Art und Weise nach, wie die Kinderbücher die Beziehung zwischen Menschen und Tieren schilderten; bald fiel ihm der Widerspruch zwischen diesen heiteren Bildern und den proteinhaltigen Tatsachen auf, die er beim Abendessen auf seinem Teller vorfand. Kurz nach Eintritt in die erste Klasse sagte ihm seine Mutter, Tautropfen seien Elfentränen, und er sagte ihr, ihr Kopf sei voller Hundescheiße. An jenem Abend verdrosch ihn sein Vater; und auch später hatte Bix stets den Verdacht, sein wahres Verbrechen sei nicht Grobheit, sondern sein Widerwillen gegen das Lügen.
    Er wuchs heran und erweiterte seinen Horizont. Gott? Weihnachtsmann für Erwachsene. Liebe? Euphemismus für Selbstaufgabe. Heirat? Erster Vorbote des Todes.
    Am Morgen des 13. Juli 1996 machte Bix Constantine eine weit schlimmere Erfahrung, als die, durch die konzentrierte Schäbigkeit von Atlantic City zur Arbeit zu gehen: nämlich die, dies im vollen Bewußtsein der bevorstehenden Entlassung zu tun. Niemand wußte, warum der Midnight Moon im Konkurrenzkampf der Supermarkt-Revolverblättchen der große Verlierer war. Bix wußte es nicht, seine Redaktionsmannschaft nicht, auch nicht Tony Biacco, früherer Mafiachef, dem das Blättchen gehörte. »Leute, wir müssen den Stecker ziehen!« hatte Tony mindestens einmal pro Woche in den letzten zwei Jahren verkündet. ›Steckerziehen‹ war ein vertrautes Leitmotiv beim Midnight Moon. MANN ZIEHT STECKER – FRAU ERWACHT AUS KOMA! Oder: IRRER SCHLEICHT IN KOMA-STATION: ZIEHT ALLE STECKER! Und: MÄDCHEN IM KOMA FLEHT DURCH MEDIUM: »MAMA, ZIEH NICHT DEN STECKER!«
    Bix schlenderte über die Tropicana und kaufte bei einem Stand einen Becher Kaffee. Der säulengeschmückte Eingang des ›Golden Nugget‹ gegenüber glitzerte wie das Himmelstor der Fundamentalisten. ›Heute: Neil Sedaka!‹ schrien die Reklametafeln. ›Nächste Woche: Vic Damone und Diahann Caroll!‹ – Wer könnte bloß helfen?
    Als er zehn war, hatte ihn sein Vater hierher zu einem Fest mitgeschleift. Das Casino Gaming-Referendum war grade

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