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Die eingeborene Tochter

Die eingeborene Tochter

Titel: Die eingeborene Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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Klippe hinunter. »Ich möchte sie gern treffen.«
    »Gott?«
    »Gott.«
    Gott. So. Der Name war schließlich doch gefallen, die schwärende Wunde aufgeschnitten. Das Familiengerippe im Schrank klapperte.
    »Was soll ich sagen?« Jesus zuckte die Achseln. »Offensichtlich ist unsere verehrte Mutter schwer zu fassen. Vielleicht konnte Einstein ihre Gedanken hören. Ich kann’s nicht.«
    Plötzlich kam ihr alles hoch, der ganze Groll, die Wut des im Stich gelassenen Kindes. »Unterstell mir das Universum, und als erstes werd ich meine Mutter wegen krimineller Vernachlässigung verhaften!«
    »Das ist ziemlich harsch, Julie.«
    »Du hast leicht reden! Gott hat sich um dich gekümmert. Für dich gab’s Gold, Weihrauch und Myrrhe. Für mich nur Scherzkissen und Hundescheiße aus Gummi!«
    »Aber wenn wir wirklich eine physikalische Gottheit annehmen, eine unerkennbare erste Bewegerin, können wir sie kaum verurteilen.«
    Jesus verspeiste sein Sandwich mit sechs gleich großen Bissen. »Vielleicht will Gott eingreifen, nur würde das bedeuten, das Gewebe der Raumzeit zu zerreißen und das physikalische Universum zu zerstören. So schickt sie halt uns.«
    »Das hab ich schon damals im College begriffen.« Julie mampfte an einem Wassermelonenschnitz. »Ich bin trotzdem sauer auf sie. Es spielt keine Rolle, wie unzugänglich meine Mutter ist, sie dürfte einen Ort wie den hier einfach nicht zulassen!«
    »Die Hölle ist Wyverns Domäne, nicht ihre.«
    »Dann soll sie doch die Raumzeit zerreißen! Soll sie’s doch tun! Irgend etwas…« – Julie erstickte fast an ihrem Gekreisch –, »das all diesem Leiden ein Ende macht!«
    »Die Materie sorgt schon um das ihre«, sagte Jesus ruhig.
    »Huh?« Die Materie sorgt schon um das ihre: so viel Eschatologie in so wenigen Worten. »Was?«
    »Ich sagte…«
    »Nun, der Hochofen da unten zum Beispiel kommt mir ziemlich robust vor.«
    Jesus gestikulierte. »Das Wasser, das wir verteilen… erinnerst du dich an die Hochzeit von Kanaa, wo das Wasser zu Wein wurde?«
    Julie wies auf einen halbwüchsigen Mann, der Roheisenklötze aus der Gießerei wälzte. »Ist es wirklich Wein?«
    »Nein, ein Schmerzmittel. Eigenes Rezept. Nach dem, was du mir über Chemie erzählt hast, ist es ein Opiumderivat, glaub ich. Verwandt mit Morphin.«
    »Morphin? Wir geben ihnen Morphin?«
    Gottes Sohn biß in die fleischige Spitze einer Banane. »Es bleibt bei dem Verdammten ein paar Wochen lang im Hirn’ und schenkt ihnen süßes Vergessen – und zwar einen wirklichen Tod, keine Wiederauferstehung in der Hölle. Kurz, bevor sie das Bewußtsein verlieren, stürzen sie sich in den Feuersee und verdampfen.«
    »Und Wyvern hält es für Wasser?«
    Jesus nickte. »Es amüsiert ihn, wie wir unsere Zeit verschwenden. Er nennt es ein ›Heftpflaster für die Ausgeweideten‹.«
    »Sie sehen so glücklich aus, wenn sie gehen. Kein Wunder. Du hättest mir das sagen sollen!«
    »Als du noch gedacht hast, es sei Wasser, hattest du da Zweifel, ob es sich lohnt, dieses Wasser zu spenden?«
    »Machst du Scherze? ›Auf in die Hölle, lassen wir uns die Haut runterbrennen, weil, verdammt noch mal, wir kriegen ja ein Gratisglas Wasser!‹ Natürlich hatte ich Zweifel!«
    »Aber du bist immer wiedergekommen. Tag für Tag.«
    »Ich bin wiedergekommen«, schnaubte Julie.
    »Wie irrational.«
    »Sie waren so heiß.«
    »Richtig.«
    »Und durstig.«
    »Genau.«
    »Und von allen verlassen.«
    Jesus grinste breit in seinen Bart. »Rabbi Hillel hätte es nicht besser formulieren können!« Er beugte sich vor und streichelte liebevoll über Julies Rücken. »Ich werde doch noch eine Jüdin aus dir machen, Tochter Gottes«, flüsterte er und küßte sie sanft auf die Wange.
     
    Julie Katz mochte sich nicht zur Behauptung versteigen, die fünfzehn Jahre, die sie in der Hölle mit der Ausgabe von Designer-Morphin an die Verdammten verbrachte, seien die besten ihres Lebens gewesen, aber diese Jahre zeichneten sich durch glückselige Einfachheit und rituelle Zweckmäßigkeit aus, was, wie sie glaubte, schließlich zu ihrer liebsten Erinnerung würde. Sie fühlte, wie sie älter wurde. An Händen und Schenkeln erschienen blaue Venen. Ein Silberstreif im Haar, als ob sie den Elektrischen Stuhl überlebt hätte. Das Zahnfleisch wurde weicher, die Zähne wurden allmählich locker, die Knochen brüchiger.
    Wenn sie den Arm ausstreckte, einem Gefangenen Morphin anbot, stellte sich sich oft vor, wie die Kelle die Quantenbarriere

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