Die eingeborene Tochter
erlöst. Damals hatte jedes Kaff so einen Gott. Woher war denn dieser Paulus?«
»Tarsus.«
»Da bin ich einmal vorbeigekommen«, sagte Jesus und blätterte durch die Episteln. »Der lokale Gott dort hieß Baal-Taraz, glaub ich.« Er preßte die offene Bibel wie eine Breipackung an die Brust. »Gütiger Himmel, dazu bin ich geworden? Zu so einer Sühnegottheit?«
»Es ist mir sehr unangenehm, daß ausgerechnet ich dir das sagen muß.« Julie gab der haarlosen Frau zu trinken.
»Die Heiden haben also gewonnen? Deshalb spricht Johannes vom ewigen Leben statt vom Königreich? Das Christentum wird zu einer Ewiges-Leben-Religion?«
»Nimm Christus als deinen persönlichen Erlöser an«, bestätigte Julie, »und du wirst nach dem Tode errettet und in den Himmel aufgenommen werden.«
»In den Himmel? Nein, ›Dein Reich komme!‹ Auf Erden, verstehst du? Und schau doch auf meine Gleichnisse, all diese erdhaften Metaphern – das Königreich ist wie Hefe, Julie, wie ein Senfkorn, ein Schatz in einem Feld, ein Landbesitzer, der Arbeiter für seinen Weingarten anstellt…«
»Eine kostbare Perle«, sagte die Frau auf dem Tisch.
»Richtig. Keine Rede von Tagträumen.« Jesus hob seine schönen Hände, der Wind sang in den Wundmalen. »Ich meine, wie kannst du etwas über Utopia erzählen und mit einem Auge immer auf die Ewigkeit schielen?« Er ließ die Hände sinken. »Oh, jetzt komm ich erst mit – so haben sie das hingebogen, weil ich nicht zurückgekommen bin! Das haben sie einfach alles in ein fernes Nirgendwo verschoben!«
»So ist es.« Julie nahm der kahlen Frau das Schild ab.
»Was für eine chutzpah!«
»Wenn wir schon dabei sind«, sagte die Gefangene keuchend, »kannst du vielleicht einen Streitpunkt klären. Verwandelt sich die Hostie buchstäblich in dein Fleisch und Blut?«
»Was für Zeug soll sich in was verwandeln?« fragte Jesus.
»Das Heilige Abendmahl«, erklärte Julie. »Die Hostie wird zu deinem Fleisch, der Wein zu deinem Blut« – die Stimme versagte ihr: wie würde er bloß den nächsten Schritt aufnehmen? – »und dann, nun…«
»Und dann?«
»Und dann essen wir dich«, sagte die kahle Frau.
»Ihr macht was?!«
»Wir essen dich.«
»Das ist ja ekelhaft!«
»Nein, das Ganze hat wirklich eine geheimnisvolle Poesie«, beeilte sich die kahle Frau hinzuzufügen. »Durch das Abendmahl haben wir Teil an deinem Leben, deinem Wesen. Geh doch einmal zur Messe! Du wirst schon sehen…«
»Ich glaub, das werd ich mir sparen«, sagte der Sohn Gottes. »Der Nächste!«
Die Mittagspause wurde zu Julies liebster Tageszeit. Sie und ihr Bruder schlossen dann eine Stunde lang die Höhle, schlüpften an den benommenen Verdammten vorbei und zogen sich auf einen Felsen über der größten Gießerei der Hölle zurück.
Sie unterhielten sich oft über Naturwissenschaft. »Erzähl mir was über die Evolution«, sagte Jesus. »Über den Benzolring, Schwarze Löcher, die Heisenbergsche Unschärferelation.« Seine Wißbegier war erstaunlich. Julies Bericht über ein Universum, das sich weit über die Vorstellungskraft der Propheten hinaus erstreckte, der epische Gobelin der Galaxienhaufen, die beflügelnde Vorstellung von pulsierenden Sternen, von kollabierten Sternen, die sogar das Licht verschluckten; und all das als Folge des Urknalls im ständigen Auseinanderstreben – solche Theorien nahmen Jesus nicht weniger gefangen als die philosophischen Vieldeutigkeiten im Gleichnis vom Guten Samariter oder vom Unfruchtbaren Feigenbaum.
Julie meinte nach ihrer Vorlesung über die Gravitation: »Natürlich wird man diese Modelle im Lichte neuer Informationen revidieren – solche Tatsachen wie meine Ankunft auf der Erde oder die reale Existenz der Hölle einbeziehen –, aber das ist ja das Schöne an der Naturwissenschaft. Sie korrigiert sich immer wieder selbst. Neue empirische Daten sind durchaus willkommen!«
»Wenn Einstein recht hat, ist der Raum ein unendlicher Gummimantel«, begeisterte sich Jesus und breitete seinen zerfetzten Umhang aus. »Große Massen beulen ihn ein und bewirken dadurch, daß vorbeifliegende Objekte der natürlichen Vertiefung folgen!«
Julie öffnete den Picknickkorb und gab ihrem Bruder ein Hühner-Sandwich mit Salat. »Einstein sagt, wenn Wissenschaft auf der Höhe der Zeit betrieben wird, hört man die Gedanken Gottes.«
»Eines Tages wird dieser kluge Jude hier auftauchen.«
»Gott?«
»Einstein.« Jesus klaubte die Pickles aus seinem Sandwich und warf sie über die
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