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Die eingeborene Tochter

Die eingeborene Tochter

Titel: Die eingeborene Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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»Autorisierte Biographien sind das natürlich nicht«, sagte er. »Bei Markus ist immerhin die Chronologie richtig, und Matthäus kriegt die Reden ganz gut hin. Bei Johannes haben wir natürlich diese seltsame Lichtgegen-Dunkel-Metaphorik – gnostischer Einfluß, nehm ich an –, und für den Antisemitismus kann ich nichts. Aber sogar dort kommt mein zentrales Anliegen rüber.« Jesus half der Asiatin auf die Beine. »Ich wollte ein hebräischer Messias sein, nicht wahr? Die Römer vertreiben, den Thron Davids wieder aufrichten, eine Nation der geistig Geläuterten gründen. Das Königreich Gottes hab ich’s genannt.«
    »Manchmal auch Himmelreich«, sagte Julie. Sie nahm der Frau das Schild ab.
    »Ein Paradies unter der Leitung einer wohlwollenden jüdischen Monarchie.« Jesus zog eine Bibel aus der Robe und schlug Matthäus auf. »Wie auch immer, da war ich, ein göttliches Wesen, ein Abkömmling Gottes – und ich hab’s doch nicht geschafft. ›Wahrlich ich sage euch, dies Geschlecht wird nicht vergehen, bis daß dies alles geschehe.‹ Nun, das Geschlecht ist vergangen, oder nicht?« Die Asiatin verließ die Höhle, Jesus legte die durchbohrte Hand wie zum Trost auf seine Brust. »Trotzdem bin ich froh über das, was ich gelehrt habe. Über das meiste jedenfalls. – Der Nächste!«
    »›Und so jemand mit dir rechten will und deinen Rock nehmen, dem laß auch den Mantel‹«, zitierte Julie.
    »Klingt für mich immer noch gut.«
    Ein neuer Kunde kam herein, ein Mann mit einem Kropf von der Größe einer Zuckermelone. »Augenblick.« Julie half dem brennenden Körper des Gefangenen auf den Tisch. »Willst du damit sagen, du weißt nichts über deine Kirche?«
    »Meine was?« Jesus kühlte den Kropfigen.
    »Reden die Verdammten denn nie darüber?«
    »Wenn ich sie zu Gesicht bekomme, sind sie zu abgestumpft für Konversation.«
    Wieder schlug Jesus die Bibel auf. »Du meinst das da in der Apostelgeschichte, die Gemeinde von Jerusalem? Die gibt’s noch?«
    »Nein.«
    »Wundert mich nicht, nachdem ich alle im Stich gelassen habe. Petrus, Jakobus, Johannes – die erwarteten doch alle meine baldige Rückkehr. ›Es ist aber nahegekommen das Ende aller Dinge‹, heißt es bei Petrus. Und bei Johannes: ›Daher erkennen wir, daß dies die letzte Stunde ist.‹ Aber die Toten kehren nicht zurück, nicht wahr? Sie verlassen die Hölle nicht.«
    »Die Kirche von Jerusalem ist verschwunden.« Julie gab dem Kropfigen zu trinken, nahm ihm das Schild ab. »Aber es gibt eine andere, eine nichtjüdische Kirche.«
    »›Ich bin nicht gesandt denn nur zu den verlorenen Schafen von dem Hause Israel.‹ Steht bei Matthäus, glaub ich. Wie kann es da eine nichtjüdische Kirche geben?«
    »Paulus…«
    »Paulus? Irgend so ein furchtbares Zeug über Liebe, wenn ich mich recht erinnere.« Jesus trommelte mit den Fingern auf dem Einband seiner Bibel. »Paulus hat eine Kirche gegründet?«
    »Weißt du wirklich nicht, was seither geschehen ist?« Julie tauchte die Kelle in das Bächlein. »Daß du zum Mittelpunkt der westlichen Zivilisation geworden bist?«
    »Tatsächlich?«
    »Hm-hmm.«
    »Soll das ein Scherz sein?«
    »Christen gibt es heute überall auf der Welt.«
    Jesus half dem Kropfigen vom Tisch und geleitete ihn aus der Höhle. »Wie heißen die?«
    »Christen. Die Leute, die dich anbeten. Die, die dich Christus nennen.«
    »Mich anbeten? Also bitte…!« Jesus kratzte sich mit der Kelle an der Stirn. »›Christus‹ – das ist doch griechisch, oder? Ein ›Gesalbter‹, ein König. – Der Nächste!«
    »Mit ›Christus‹ meinen die Leute einen Erlöser… einen Gott, der Fleisch geworden ist.«
    »Komische Übersetzung.« Jesus füllte seine Kelle. Eine Frau, deren Haar bis zur Kopfhaut herunter versengt war, kam herein. Sah aus wie eine Chemotherapiepatientin. »Was lehren diese… diese Christen sonst noch?«
    »Daß sie Vergebung von der Erbsünde erlangen, wenn sie fest an dich glauben. Und das weißt du nicht?«
    »Erbsünde? Wann hab ich jemals davon gesprochen?« Jesus befeuchtete die kahle Frau. »Mein großes Anliegen war die Moralphilosophie. Lies die Bibel!« Die vogelgleichen Hände schwangen durch die Luft, landeten sanft auf der King James-Bibel. »Erbsünde? Meinst du das im Ernst?«
    »Dein Tod als Sühne für Adams Schuld.«
    »Oh, jetzt hör aber auf!« kicherte Jesus. »Das ist pures Heidentum, Julie. Du redest da von Attis, Dionysos, Osiris – der geopferte Gott, dessen Leiden seine Anhänger

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