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Die eingeborene Tochter

Die eingeborene Tochter

Titel: Die eingeborene Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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Kelle, oder nicht!?«
    Anthrax öffnete einen Schrank über dem Herd. Was er herauszog, hatte nicht den organischen Zauber des bewußten Schöpfkürbis – ein Aluminiumbecher mit schwarzem Plastikgriff, kaum gut genug zum Punschservieren bei einem Schulabschlußball –, aber es würde seinen Zweck erfüllen. Sie befahl Anthrax, ihr eine Kutsche zu besorgen, und gegen Mittag war sie bei der Höhle. Sie rannte an der Warteschlange durstiger Toter entlang. Jeans und Sweatshirt kriegten Schwefelflecken ab. Auf dem Granittisch lag ein kleines Mädchen mit blonden Ringellöckchen. Jesus saß in seinem Segeltuchstuhl. Er schaute auf. Glänzende Augen. Ihre Blicke trafen sich.
    Sie zeigte ihm die schäbige Kelle. »Ist das die richtige Antwort?«
    »Das weißt du doch«, sagte Jesus sanft und tätschelte den Kopf des kleinen Mädchens. Er lächelte.
    Julie tauchte die Kelle in den Bach, begoß das Kind und gab ihm zu trinken. Das Mädchen schlürfte gierig. Auf Julies Gesicht breitete sich ein erstauntes Lächeln aus.
    »Willkommen«, sagte Gottes Sohn zu seiner Schwester.

 
11. Kapitel
     
    Schwester und Bruder, Seite an Seite, Tag für Tag – spendeten sie Trost den Verdammten. So ähnlich wie das Bestellen eines Gartens, dachte Julie, wie das Bewässern von Blumenbeeten aus Fleisch. Sie teilten sich die Arbeit. Jesus kühlte die Körper, Julie spendete den Trunk. Er hatte wundervolle Hände; federlose Vögel an glatten, anmutigen Schwingen. Wenn er sie bewegte, strömte leise die Luft durch die Löcher in den Handgelenken.
    »Erzähl mir was von dir«, verlangte er.
    Und sie erzählte. Alles. Über die Retortenzeugung. Ihren Tempel. Ihre orgasmische Begegnung mit der empirischen Wahrheit. Pops Herzanfälle. Über ihre Kolumne im Moon, ihre ferngesteuerten Wunder, über den Brand von Atlantic City und Phoebes Flucht aus Angel’s Eye.
    Als sie fertig war, starrte Jesus sie nur verblüfft an. Lemurengroße Augen, Mund offen wie eine hungrige Robbe.
    »Ich bin froh, daß du das Feuer gelöscht hast«, sagte er endlich.
    »Es war nicht leicht.« Am liebsten hätte sie geheult. Wie kitschig und armselig klang ihre Geschichte, bar jeder Größe – so unkosmisch, hätte Tante Georgina gesagt.
    »Und ich bin schwer beeindruckt von diesem Wissenschaftszeug. Dieser Mut, die eigenen Überzeugungen in Frage zu stellen, wirklich sehr bemerkenswert.«
    »Historisch ohne Beispiel«, seufzte sie und fing eine Träne mit der Kelle auf.
    »Das wäre eine gute Botschaft, ja. Würd sie sogar der Botschaft der Liebe gleichstellen. Aber…«
    Er fixierte sie mit einem so leuchtenden Blick, daß sie die Augen schließen mußte.
    »Ja?« flüsterte sie heiser.
    Jesus spreizte die Finger. Er machte kein Hehl aus seinem Mißfallen. »Diese halbausgegorene Auferstehung deines Vaters, diese unverbindlichen Einmischungsversuche, dann noch vor den Leuten am Strand wegzulaufen, den Mob aus deinem Leuchtturm auszusperren und endlich die Alkoholikerin, deine Freundin, im Stich zu lassen – das ist nicht das, wofür unsere Familie eintritt, wirklich nicht! – Der Nächste!«
    Eine Asiatin mit schweißüberströmtem Gesicht kam in die Höhle. Julie fühlte in ihrem Herzen den Stachel der Streitsucht. »Okay, okay, aber vielleicht bist du selber auch nicht wie Gott! Hast du nicht einen Haufen Krüppel, Leprakranke und blinde Bettler zurückgelassen?«
    »Nicht ohne Bedauern.«
    »Aber verlassen hast du sie!«
    »Schau, Göttlichkeit ist zweifellos ein sehr verwirrender Zustand. Ein Fluch.« Wieder die brennenden Augen: Julie fiel die zehnjährige Phoebe ein, die mit ihrem Vergrößerungsglas Ameisen auf dem Gehsteig briet. »Aber das ist für uns keine Entschuldigung. Wir können nicht einfach einen Haufen schlimmer Zeitungsartikel auf die Schlafzimmerwände pappen und abwarten.«
    Nie hatte sie sich schlechter gefühlt. Die Kiemen schnappten nach Luft, die Augen schwammen in Tränen.
    »Ich war eine Idiotin.«
    Plötzlich benahm er sich ganz anders – erst Ankläger, nun Tröster. Erst oberster Richter, nun Engel der Gnade. »Was geschehen ist, ist geschehen.« Er half der Asiatin auf den Tisch und kühlte sie. »Manchmal glaub ich, ich hab’s auch nicht viel weiter gebracht.«
    Das Bekenntnis verwirrte Julie. Sie ließ ihre Kelle fallen. »Tatsächlich?«
    »Ja.«
    »Das kann ich nicht glauben!«
    »Ich hab heute nacht wieder die Evangelien gelesen.« Julies toter Bruder füllte die Kelle und hielt sie an die Lippen der Gefangenen.

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