Die Einöder
der Einöder all die Stunden gefolgt war, in eine breitere, ebenfalls verdorrte Flußniederung. Der Alte versuchte sich an den Namen des größeren Waldstromes, der einst hier geflossen war, zu erinnern. Doch sein Gedächtnis versagte, und er wußte auch nicht mehr, daß er in seiner Kindheit, als das Mittelgebirge noch dicht besiedelt gewesen war, zusammen mit seinen Eltern und Geschwistern Ausflüge zu diesem breiten Fluß unternommen hatte. So blieb ihm, nachdem er eine Weile gegrübelt hatte, einzig das Wissen, daß er dem größeren Taleinschnitt folgen mußte, wenn er die Donauebene erreichen wollte, und deshalb bog er nun in die sich zuerst nach Norden erstreckende und dann in westlicher Richtung umknickende ausgetrocknete Stromrinne ein.
Weit freilich kam er an diesem Tag nicht mehr, denn bald verschattete die Abenddämmerung das abgestorbene Land, und der Wanderer mußte sich nach einem Unterschlupf für die Nacht umsehen. Nach einigem Suchen fand er über dem ehemaligen Steilufer des Flusses eine Bodenmulde, die von Steintrümmern umsäumt war und aus deren Grund die Reste eines vermoderten Baumstrunks emporragten. Dort ließ er sich erschöpft nieder, saß ein paar Minuten mit geschlossenen Lidern da und machte dann Anstalten, seinen Rucksack zu öffnen, um den Beutel mit den gerösteten Heuschrecken herauszuholen. Aber plötzlich bemerkte er, daß bei dem verfaulten Baumstock Käfer herumwuselten. Rasch rückte er näher und fing an, die schwarzen, zentimeterlangen Insekten aufzusammeln und sie zu töten. Es gelang ihm, zwei Hände voll dunkler Käfer zusammenzubringen, und nachdem er die Insekten auf einem flachen Felsstück zerquetscht hatte, konnte er sich an dem Käferbrei sättigen.
Bald danach spürte er, wie ihn die Müdigkeit übermannen wollte; doch ehe er einschlief, entsann er sich noch einer Geschichte, welche ihm der Großvater in den Tagen seiner Kindheit erzählt hatte: einer Geschichte, die von einschichtigen Waldhirten und Kohlenbrennern gehandelt hatte, welche in längst vergangenen Zeiten manchmal in ähnlichen Bodengruben wie derjenigen gehaust hatten, in der er für die kommende Nacht untergekrochen war. Und mit der Erinnerung an diese Erzählung des Großvaters sank der Einödbauer in den Schlaf und träumte von seiner Jugend, in der es noch Großeltern, Eltern und dazu die rauschenden, von Horizont zu Horizont reichenden Wälder gegeben hatte.
Kurz nach Sonnenaufgang erwachte der Alte wieder und linderte seinen brennenden Durst, indem er säuerlich schmeckendes Tauwasser von den Steintrümmern leckte, die rings um seinen Unterschlupf lagen. Am Spätvormittag sodann stieß der einsame Wanderer im Bett des verschwundenen Flusses auf einen Tümpel, in welchem Wasser stand, das nicht übermäßig faul roch, und dort trank er ausgiebig. Auch konnte er die seit dem vergangenen Nachmittag leere Plastikflasche, welche er im Rucksack mit sich führte, wieder auffüllen, und dies hob seine bis dahin sehr gedrückte Stimmung zumindest ein wenig.
Der Alte machte sich nämlich Sorgen wegen des Verlaufs des Trockentales, welchem er folgte. Denn der Kolibribunte hatte mehrmals davon gesprochen, daß die Städte, wo es den Odem gab, im Süden an der Donau zu finden waren; die einstige Flußniederung jedoch zog sich stetig in westlicher oder nordwestlicher Richtung dahin, und dies bereitete dem Wanderer Kopfzerbrechen. Er rätselte und rätselte; trotzdem vermochte er den Widerspruch nicht aufzulösen – endlich aber, weil das reichlich genossene Tümpelwasser sein Blut verdünnte und dadurch sein Gehirn angeregt wurde, fand er doch so etwas wie eine Antwort auf die Frage, die ihn quälte.
Dunkel entsann er sich an eine große Landkarte des Waldgebirges, welche in der Dorfschule, in die er als Bub gegangen war, an der Wand gehangen hatte. Auf dieser Karte waren die Gewässer eingezeichnet gewesen, welche das Mittelgebirge durchflossen hatten, und falls er sich richtig erinnerte, dann waren sie zuletzt allesamt vom mächtigen Donaustrom aufgenommen worden. Das aber bedeutete, daß auch das Trockental, in dem er sich befand, am Ende zur Donauebene mit ihren Städten hinabführen mußte, und nachdem er dies erkannt hatte, fühlte sich der Alte besser. Wenn er nur immer unbeirrt der ausgedörrten Flußniederung folgte, würde er irgendwann gewiß an sein Ziel kommen; daran gab es jetzt eigentlich nichts mehr zu rütteln – und mit dieser Überlegung setzte er seinen Weg nun leichteren Sinnes
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