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Die Einöder

Die Einöder

Titel: Die Einöder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Böckl
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fort.
    Den ganzen Tag über marschierte er beständig nach Westen; kurz bevor neuerlich die Finsternis hereinbrach, verkroch er sich zwischen den Betontrümmern einer teilweise eingestürzten Brücke, die einstmals den Fluß überspannt hatte. Ehe er sich zum Schlafen niederlegte, aß er von den gerösteten Heuschrecken, die er bei sich hatte. In der Nacht suchten ihn Alpträume heim: Immer wieder quollen aus dem Untergrund einer versunkenen Stadt halb menschliche, halb dämonische Wesen heraus, die ihn jagen und abschlachten wollten.
    Im Morgengrauen kam der Alte schweißgebadet zu sich; wenige Minuten später hastete er, von den Nachwehen der Nachtmahre noch wie betäubt, davon – und dann, am frühen Vormittag, schienen die Bilder aus seinen grauenhaften Träumen Wirklichkeit werden zu wollen. Denn der einsame Wanderer gelangte zu einer Ruinenstadt; einer vor vielen Jahren von ihren Bewohnern verlassenen Waldstadt, deren geborstene Überreste auf einem flachen Hügel über dem Hochufer des Flußtals gen Himmel ragten.
    Am Fuß der Anhöhe stehend, starrte der Einöder zu den menschenleeren Gebäuden empor. Er sah zerstörte Häuser, die keine Dächer mehr trugen und deren Außenwände infolge der Bodenerosion teilweise den Uferhang hinabgekracht waren; er sah historische Gebäude, welche von Jahrhundert zu Jahrhundert unbeschadet überdauert hatten und die jetzt zu großen Teilen in Trümmern lagen; er sah die uralte Wehrkirche der Geisterstadt, deren verbrannt wirkender und von oben bis unten gespaltener Turm offenbar durch einen gigantischen Blitzschlag auseinandergerissen worden war.
    Lange schaute der grauhaarige Mann mit bebenden Lippen und brennenden Augen zu der verwüsteten Stadt hinauf; schließlich, als er den Anblick nicht mehr ertragen konnte, wandte er sich abrupt ab und ging so rasch wie möglich weiter. Aber das gräßliche Bild, das er gesehen hatte, verfolgte ihn noch den ganzen Tag über, und in der Nacht, als er sich auf seinem steinigen Lager am Sockel einer Felsschroffe wälzte, wurde er erneut von Alpträumen gequält.
    Auch in den nächsten Tagen und Nächten litt er, denn er sah noch mehr in Ruinen daliegende Städte, Marktflecken und Dörfer, aus denen jegliches menschliche und dazu alles tierische und pflanzliche Leben verschwunden war. Irgendwann jedoch, eine halbe oder auch eine volle Woche nach seinem Aufbruch vom einschichtigen Anwesen am Schwarzen Regen, war er so abgestumpft, daß ihn der Anblick der toten Ansiedlungen kaum noch berührte. Seine Teilnahmslosigkeit, die ihn gelegentlich fast wie betäubt dahintrotten ließ, rührte aber auch von seiner Erschöpfung her; zunehmend schwanden seine Kräfte im ständigen Kampf mit der daseinsfeindlich gewordenen Natur, welche die gefährlichen Windwirbel gegen ihn ausspie, ihn mit drückender, schwefeldunstiger Schwüle peinigte und ihm Nahrung und Wasser verweigerte.
    Einen oder zwei Tage – er vermochte die Zeit jetzt nicht mehr so genau zu messen – fand der Alte überhaupt nichts zu trinken; als er endlich auf einen übelriechenden Tümpel stieß, der sich in einem algenverwucherten Gesteinskessel erhalten hatte, soff er das Faulwasser gierig in sich hinein. Bald büßte er es mit schmerzhaften Anfällen von Diarrhöe; nach stundenlangen Darmkrämpfen aber erholte er sich wieder, und in der Nacht, als ein schmetterndes Gewitter seine Wut austobte und ein kurzer Guß sauren Regens aus einer brodelnden Wolkenwand niederging, leckte er das Frischwasser keuchend vom Boden auf.
    Am Morgen raffte er sich mühsam auf und nahm seinen Weg von neuem unter die Füße. Um die Mittagszeit wurde ihm dumpf bewußt, daß das ausgetrocknete Flußbett, welches sich bisher stets in westlicher Richtung erstreckt hatte, nach Süden umbog, und am Nachmittag bemerkte er, daß sich die Landschaft links und rechts der Talsenke verändert hatte. Die Bergzüge wirkten flacher; es waren eigentlich nur noch Hügelketten, und in der Ferne, unter dem südlichen Horizont, schienen sie sich allmählich von der Flußniederung zurückzuziehen.
    Eine Ahnung beschlich den Alten; die Ahnung, daß seine furchtbare Wanderung nun womöglich in absehbarer Zeit ihr Ende finden könnte. Und darin hatte er sich nicht getäuscht, denn eine Weile vor Sonnenuntergang des übernächsten Tages befahl ihm sein Instinkt, eine Anhöhe seitlich der ausgedörrten Flußrinne zu erklimmen – und von der Hügelkuppe aus erblickte er das Donautal und inmitten der breiten Stromniederung

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