Die Einöder
die große Stadt, die sein Ziel war.
Die Augen des grauhaarigen Mannes füllten sich mit Tränen; er fing an zu schluchzen, und es dauerte, bis er wieder klar sehen konnte. Doch dann spähte er um so angestrengter ins Stromtal hinab, und er hatte dabei den beglückenden Eindruck, als läge über dem Land und der Großstadt dort unten so etwas wie ein lichter, lebensfreundlicher Schimmer. Zudem glaubte er ein verheißungsvoll schillerndes Blitzen wie von fließendem, lebendigem Wasser in der Tiefebene zu erkennen, und insbesondere diese fast visionsartige Wahrnehmung schenkte ihm neue Kraft.
In einer beinahe übermütigen Anwandlung winkte er zur Stadt hinüber; dann kletterte er wieder hinunter zum ausgetrockneten Flußbett, dem er wochenlang gefolgt war, und marschierte an dessen Saum weiter. Inständig hoffte er darauf, die Donaustadt noch an diesem Tag betreten zu können – aber ehe er sein Ziel erreichte, überraschte ihn noch einmal die Nacht.
Notgedrungen kroch der Alte in einer Hausruine am Rand des Trockentales unter. Unruhig schlief er auf einer halbvermoderten Matratze, die er dort gefunden hatte, und mit dem allerersten Morgenlicht nahm er den letzten Abschnitt seiner Wanderung in Angriff.
Ungefähr drei Stunden später, am frühen Vormittag, stieß er auf die Überreste einer geteerten Straße. Einst war sie parallel zum Ufer des Waldflusses verlaufen und hatte weit hinein ins Mittelgebirge geführt; jetzt war ihr Asphaltbelag an zahlreichen Stellen geborsten, und anderswo hatten sich meterdicke, dünenartige Schichten von sterilem Flugsand auf ihr abgelagert. Doch für den Grauhaarigen war das Straßenfossil trotzdem ein Geschenk des Himmels. Er durfte sich sagen, daß ihn die aufgesprungene und teilweise verschüttete Fahrbahn höchstwahrscheinlich direkt zur Stadt leiten würde – und so war es auch, denn noch bevor die trübe Sonnenscheibe im Zenit stand, mündete die Straße in einen der nördlichen Außenbezirke der Großstadt ein.
Der Alte schaute sich nach Menschen um; er fieberte einer Begegnung mit seinesgleichen nun förmlich entgegen – aber er konnte nirgendwo einen Mann, eine Frau oder ein Kind ausmachen. Er sah lediglich die vielen verlassenen Vorstadtgebäude mit ihren leeren, glaslosen Fensterhöhlen: Ein- und Zweifamilienhäuser, Reihenhauszeilen, dazwischen einzelne Hochhausklötze oder Hallen von ehemaligen Gewerbebetrieben. Vor einer verödeten Tankstelle, deren Flachdach vom Sturm niedergerissen worden war, standen Dutzende von verrosteten Autos; als aus der aufklaffenden Heckklappe eines der Fahrzeugwracks ein fahlfarbener Vogel von der Größe einer Krähe herausflatterte, zuckte der Grauhaarige erschrocken zusammen.
Im nächsten Moment wurde ihm klar, daß sich die Menschen, nach denen er suchte, ins StadtZentrum zurückgezogen haben mußten. Er beschleunigte seine Schritte, blickte in der Folge nur mehr flüchtig auf die Gebäude an den Straßenrändern und gelangte etwa zwei Stunden später, jenseits eines langgestreckten Platzes, auf dem früher wohl Märkte abgehalten worden waren, zu einer mächtigen, bogenförmig geschwungenen Steinbrücke.
Diese Bogenbrücke wirkte uralt; auf Pfeilern mit schiffsförmigen Sockeln ruhend, überspannte sie die Donau – oder besser das, was von dem einstmals so gewaltigen Strom übriggeblieben war: ein dürftiges, nur noch bachbreites Rinnsal, das sich zwischen giftgrün schillernden Algenbänken über schleimbedeckten Schotter und Schlamm quälte.
Als der Grauhaarige die Brückenmitte erreicht hatte und sich über die Steinbrüstung beugte, vermeinte er, einen Hauch fauligen Dunstes zu riechen. Er seufzte; dann ging er langsam weiter und gelangte zu der Stelle, wo die Bogenbrücke in den Schlund eines mittelalterlichen Torturmes mündete. Dort, am Zugang zum historischen Zentrum der Donaustadt, stutzte er, denn es war ihm, als hätte er jenseits des Torschlundes eine menschliche Gestalt erkannt; gleich darauf gewahrte er die Frau, die soeben aus einem hochgiebeligen Haus auf die Gasse getreten war, genauer. Auch das Weib erblickte ihn jetzt – doch statt auf sein aufgeregtes Winken zu reagieren und ihm entgegenzukommen, drehte sich die Frau jäh um und war Sekunden später wieder in dem Giebelhaus verschwunden.
Der Alte konnte ihr Verhalten nicht verstehen; in der nächsten Viertelstunde aber, während er durch das Gassengewirr der Innenstadt tappte, begriff er allmählich, daß die Menschen hier allgemein von seltsamer Scheu
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