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Die Einöder

Die Einöder

Titel: Die Einöder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Böckl
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waren. Die wenigen Männer und Frauen, denen er begegnete, wichen ihm aus; niemand grüßte ihn, und manche Leute starrten ihn sogar mit unverhohlener Feindseligkeit an.
    Infolgedessen fühlte sich der Grauhaarige, der so unsägliche Mühsal auf sich genommen hatte, um in die große Stadt zu kommen, immer beklommener. Außerdem spürte er nun, da die Euphorie, die ihn kurz zuvor noch erfüllt hatte, von ihm gewichen war, erneut seine körperliche Schwäche. Hunger und Durst quälten ihn; seine Beine zitterten und drohten ihm den Dienst zu versagen – und zuletzt, nachdem der Alte auf einen ausgedehnten, von hohen Gebäuden umgebenen Platz im Herzen der Donaustadt getaumelt war, sank er stöhnend an der Steineinfassung eines fast versiegten Brunnens nieder.
    Eine Weile hockte er völlig erschöpft da; schließlich fand er die Kraft, sich wieder aufzuraffen und seine Plastikflasche aus dem Rucksack zu ziehen. Mit bebenden Fingern öffnete er die Flasche und hielt ihren Hals unter das Brunnenrohr, aus welchem das Naß nur noch dünn tröpfelte. Es dauerte mehrere Minuten, bis die Plastikflasche ein paar Zentimeter hoch gefüllt war, so daß der Grauhaarige einige bescheidene Schlucke aus ihr nehmen konnte. Als er das modrig schmeckende Wasser im Magen hatte, wich das wabernde Schwindelgefühl, das ihn nach der Anstrengung des Aufstehens befallen hatte, von ihm. Die flirrenden Funken, die vor seinen Augen getanzt hatten, verschwanden; sein Blick wurde klarer, und er vermochte den großen Platz, an dessen Westseite er sich befand, genauer zu betrachten.
    Die mächtigen Gebäudeklötze, welche das gepflasterte Areal umstanden, besaßen jeweils vier, fünf Stockwerke; da und dort öffneten sich zwischen ihnen die Einmündungen von Gassen, und das östliche Ende des Platzes wurde links von einer Kirche mit wuchtigem, viereckigem Quaderturm und rechts von einem palastähnlichen Bauwerk begrenzt. Die Menschen, die auf dem weiten Areal unterwegs waren, nicht mehr als zwei oder drei Dutzend, wirkten unbedeutend im Vergleich zu den hohen Gebäuden; sie kamen dem am Brunnen lehnenden Alten beinahe so winzig wie Insekten vor – und dies galt besonders für jene, die sich in der Nähe des gigantischen Bauwerks befanden, welches die Nordflanke des Platzes beherrschte.
    Es handelte sich um eine himmelstürmende Kathedrale mit teilweise durchlöcherten Dachflächen, an deren Westfront zwei gewaltige Türme aufragten. Der linke trug eine filigranartig durchbrochene Spitze; die Krone des rechten hingegen erinnerte an einen riesigen zersplitterten Zahnstumpf, denn die Turmspitze war herabgestürzt. Ihre Trümmer bedeckten den Boden an der Südwestecke des Domes übermannshoch – und an einer Stelle des wüsten Schutthaufens gab es etwas höchst Ungewöhnliches zu sehen: die metergroße Steinfigur einer dämonischen Bestie, die mit weit aufgerissenem Maul und schräg nach oben gereckter Krallenpranke aus dem Trümmerkegel aufwuchs.
    Wie gebannt starrte der Grauhaarige auf die Dämonenfigur; noch nie hatte er etwas Derartiges erblickt, weshalb ihn die Bestiengestalt fast magisch anzog. Dann auf einmal steckte er die Wasserflasche, die er noch immer in der Hand gehalten hatte, in den Rucksack zurück und ging mit langsamen Schritten auf den Schutthaufen zu. Es drängte ihn, die dämonische Figur von nahem in Augenschein zu nehmen – doch kaum war er an den Trümmerkegel herangetreten, wurde er abgelenkt. Zuerst kam es ihm so vor, als würde jemand mit spöttisch keckernder Stimme den Bibelsatz „Macht euch die Erde Untertan!“ rufen; im nächsten Moment, eben als er glaubte, die fürchterlichen Konsequenzen dieses Ausspruches zu begreifen, nahm er im Schutt neben der Bestiengestalt huschende Bewegungen wahr – und einen Lidschlag später erkannte er, daß sich dort Ratten tummelten.
    Sofort begann der Magen des Alten zu knurren; der Hunger, welcher den Wanderer schon den ganzen Tag gequält hatte, wurde übermächtig und trieb den Grauhaarigen dazu, sich zu bücken und nach einem faustgroßen Stein zu greifen. Als er hastig und mit aller Kraft zum Wurf ausholte, schoß ihm ein Bild durch den Kopf: Wie er seine nahrhafte Fleischbeute, nachdem er sie irgendwo gebraten hatte, verschlingen würde – und in der nächsten Sekunde krachte der Steinbrocken auf den Trümmerhaufen.
    Splitter flogen hoch; die am Hinterteil getroffene Ratte quietschte schrill, wand sich unter dem kantigen Wurfstein hervor, duckte sich, zeigte drohend die gelben

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