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Die Einöder

Die Einöder

Titel: Die Einöder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Böckl
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Zähne und machte Anstalten, den Angreifer anzuspringen. Aber aus ihrer Schnauze rieselte bereits Blut, und sie war nicht mehr schnell genug, um einem Hieb auszuweichen, den ihr der Alte mit der knochenharten Handkante versetzte. Ihr Rückgrat brach; der Grauhaarige packte sie – und dann, weil seine Gier jetzt alles andere überlagerte, führte er die tote Ratte zum Mund, um die Blutstropfen von ihrem Kopf abzulecken.
    Doch da vernahm er einen entsetzten Schrei: „Bist du denn total verrückt?!“
    Den Rattenkadaver gegen die Brust pressend, fuhr der Alte herum und starrte auf den Fremden, der sich ihm unbemerkt genähert hatte. Es handelte sich um einen verfetteten Mann von höchstens dreißig Jahren, dessen massiger, rot angelaufener Schädel von einem Kranz frühzeitig weiß gewordener Kräusellocken umgeben war. Aus wäßrigen Glotzaugen fixierte der Fette den Rattenjäger; ein paar Herzschläge lang belauerten die beiden einander, dann streckte der Städter die gespreizten Finger seiner Rechten wie beschwörend gegen den Alten und forderte: „Wirf das Vieh weg!“
    „Nein!“ widersetzte sich der Grauhaarige. „Es ist Essen!“
    Der Fette spuckte verächtlich aus. „Vielleicht dort, wo du herkommst, du Schrat. Aber nicht hier bei uns in der Stadt. Das fehlte gerade noch, daß wir Ratten fressen müßten!“
    Zögerlich ließ der Alte die Hand, mit der er den Kadaver umklammerte, sinken.
    Der Glotzäugige nickte und grinste. „Scheint so, als hättest du es begriffen. Und nun könntest du mir eigentlich sagen, was du für einer bist. Wo stammst du denn her, und was suchst du hier?“
    „Ein Einödbauer bin ich“, erwiderte der Grauhaarige. „Im Steingebirge drinnen hause ich mit meinem Weib. Da, wo früher der Schwarze Regen floß, und die Wälder…“ Er unterbrach sich, schien in sich hineinzuhorchen und murmelte sodann stockend: „Ich weiß nicht mehr… wie weit ich gewandert bin… Doch ich erinnere mich… daß der mit dem farbigen Mantel… von der Donaustadt redete… Und da mußte ich mich… auf den Weg machen… Um den Geist Gottes zu finden…“
    „Den… was?!“ stieß der Fette verdattert hervor.
    „Den Gottesgeist!“ schrie der Alte wie in jäher Ekstase. „Wir haben ihn getrunken! Ich und mein Weib und unser Gast!“ Er schleuderte die tote Ratte auf den Schutthaufen, besann sich und fügte in gedämpfterem Tonfall hinzu: „Der mit dem blauen und dem braunen Auge schenkte uns den Atem. Und er erzählte uns, ihr hier in der Stadt hättet den Geist Gottes in reicher Fülle. Das wußte er, weil er den Odem von euch bekommen hatte. Und der Gottesgeist war in einer großen Eisenbombe, und das dreieckige Auge des Allmächtigen und die weiße Taube waren sein Siegel…“
    „Jetzt verstehe ich!“ Der Fettleibige feixte und hatte Mühe, nicht laut herauszuplatzen. „Du sprichst von dem Irren im Gauklergewand. Er hatte ein Wägelchen bei sich, nicht wahr? Und sein einer Fuß war nackt, während er am anderen einen Stulpenstiefel trug, oder?“
    „Ja“, bestätigte der Grauhaarige. „Das war er, und er sagte zu mir und meinem Weib, er sei ein Narr und ein Gottsucher.“
    „Ein Verrückter auf jeden Fall!“ prustete der Glotzäugige; ernsthafter fuhr er fort: „Ein Irrsinniger, der vor fünf oder sechs Wochen halb verhungert hier auftauchte und nicht erklären konnte, woher er eigentlich kam. Er redete immer nur wirres Zeug, und viele meinten, es sei am besten, ihn gleich wieder fortzujagen. Aber letztlich gaben wir ihm doch für eine Weile Obdach bei uns. Wir päppelten ihn mit gutem Essen und Sauerstoff auf, und als er sich erholt hatte, zeigten wir ihm die Maschinen, mit denen wir unsere Atemluft herstellen. Der geistesgestörte Zausel freilich begriff nichts. Er wurde lediglich vom hohen Sauerstoffgehalt der Luft in der Maschinenhalle berauscht, und in diesem Zustand begann er wie manisch von Gott zu faseln. Dies löste große Heiterkeit aus, und daraufhin wurde beschlossen, ihn zur allgemeinen Belustigung bei unseren Festen auftreten zu lassen. Von da an amüsierten wir uns, wenn wir im Ratskeller feierten, über seine Narreteien. Sobald man ihm eine kräftige Sauerstoffdusche verabreichte, wurde er unweigerlich von seinen religiösen Wahnvorstellungen befallen, und das mitzuerleben, war wirklich köstlich. Nach einiger Zeit aber begannen uns seine immer gleichen Albernheiten langweilig zu werden, und schließlich machten wir ihm klar, daß er nicht länger in der Stadt

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