Die einsamen Toten
Akademie.«
»Damit könntest du auf eine Spur gestoßen sein, Diane. Diese Künstler sind ein komischer Haufen.«
»Emma fand einen davon vielleicht wesentlich interessanter als die Leute, die sie aus Withens kannte.«
»Das glaube ich dir aufs Wort.«
»Da habe ich doch gleich eine Aufgabe für dich, Gavin. Ruf doch morgen früh mal bei der Kunsthochschule an und lass dir eine Liste mit allen Lehrern geben, die mit Emma zu tun hatten. Mit einigen hat man damals schon gesprochen, aber wir benötigen eine komplette Liste. Auch ihr Alter wäre nützlich. Dann kannst du Debbie Stark noch mal anrufen und mit ihr die Liste durchgehen. Sie war schließlich im selben Kurs.«
»Das ist doch reine Zeitverschwendung«, erwiderte Murfin.
»Vielleicht kannst du ihrem Gedächtnis ja ein wenig auf die Sprünge helfen.«
»Ich hoffe nur, dass es nicht so viele sind. Das könnte Wochen dauern.«
»So ist das nun mal in unserem Job, Gavin. Aber jetzt machen ein paar Wochen mehr oder weniger auch nichts mehr aus.«
»Doch, meinem Magengeschwür.«
»Seit wann hast du ein Magengeschwür, Gavin?«
»Noch nicht, aber ich rechne jeden Tag damit.«
Mittlerweile waren sie auf der A6 und nur noch ein paar Minuten von Edendale entfernt. Fry betrachtete mit gemischten Gefühlen die Landschaft des White Peak, die an den Fenstern vorbeizog. Sie wusste nicht mehr, wo sie zu Hause war. Aber vielleicht hatte sie das nie gewusst.
Sie begann, wieder in Emmas Tagebuch zu blättern.
»Eigentlich hätte sie auch seine Initialen benutzen können«, stellte sie fest. »Wenn sie Abkürzungen mochte, wäre es logisch, wenn sie die auch bei Einträgen über ihn benutzt hätte. Oder wenigstens den Anfangsbuchstaben seines Vornamens. Das hätte ich jedenfalls getan.«
»Ich habe noch nie Tagebuch geführt«, sagte Murfin. »Das kommt mir so trostlos vor.«
»Das würde uns sehr helfen«, meinte Fry. »Aber ich kann nirgendwo sehen, dass sie das getan hätte.«
»Vielleicht hielt sie das für unnötig. Sie wusste ja, um wen es ging.Weshalb sollte sie sich da noch die Mühe mit den Initialen machen?«
»Aber bei ihrer ersten Begegnung -«
Murfin bog auf die Straße ins Eden Valley ein und begann die lange Fahrt hinunter nach Edendale.
»Dieses Tagebuch«, sagte er. »Wann fängt das eigentlich an?«
»Im Januar natürlich.«
»Ich wollte es nur wissen. Mein Junge hat für die Schule ein Tagebuch, aber das geht im September los. Die nennen das ein akademisches Jahrbuch.«
Fry starrte ihn an. »Gavin – du bist ein Genie.«
»Ja, ich weiß.«
»Wenn es ein Mitglied des Lehrkörpers ist, den wir suchen, hätte Emma ihn im ersten Semester an der Kunstakademie kennen gelernt, also im Oktober zuvor. Und bei einem Studenten
trifft dasselbe zu.« Sie klappte das Tagebuch zu. »Hier drin stehen nur die letzten vier Monate. Wir brauchen das vorhergehende Tagebuch.«
»Falls es das gibt.«
»Oh, sie hat bestimmt eines geführt.«
KNLH. Kein neues Leben heute. Je länger sie auf die Buchstaben schaute, desto sicherer wurde Fry. Emma Renshaw hatte das jeden Tag hingeschrieben, ein sicheres Zeichen für eine Besessenheit.
Aber an einem Donnerstag vor zwei Jahren hatte Emmas Tagebuch abrupt geendet. Auch an diesem Tag kein neues Leben. Hatte es stattdessen aufgehört?
»Da ist noch etwas, das du tun kannst, Gavin. Fahr zu den Renshaws und bitte sie um das vorletzte Tagebuch.«
»Toll. Belohnt man so ein Genie?«
Fry schlug die Akte auf und betrachtete lange die Fotos von Emma Renshaw.Vor allem die, auf denen Emma ein ärmelloses T-Shirt oder Shorts trug und nackte Gliedmaßen und eine gute Haut präsentierte. Auf einer Aufnahme posierte sie in einem Bikinioberteil vor einem Hintergrund aus Sand und Wasser, auf das die Sonne schien; Arme und Schultern glänzten in einem ungesunden Rosa. Auf jedem Bild lachte Emma und schien glücklich, ein munterer Teenager, der den Rest seines Lebens noch vor sich hatte.
Fry ertappte sich dabei, dass ihr ein Satz nicht mehr aus dem Kopf ging. Eigentlich etwas ziemlich Dummes, das sie vor ein paar Monaten im Radio auf BBC 4 gehört hatte. Bei der Diskussion war es um Direktmarketing gegangen – eine schönfärberische Umschreibung für lästige Reklamesendungen – und wie man sich davor schützen konnte. Oder wie man sie »annullierte«, wie einer der Studiogäste es formuliert hatte. Der Moderator hatte seinem Erstaunen Ausdruck verliehen, dass jedes Jahr Hunderttausende von Menschen, die verstorben waren,
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