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Die einsamen Toten

Titel: Die einsamen Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Booth
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wegfuhr. Diese Leute aus Withens wurden immer dreister, wenn sie jetzt schon bei Tageslicht auf sein Grundstück spaziert kamen. Er würde ernsthaft etwas dagegen unternehmen müssen.

    Derek Alton griff nach dem Stock, den Lucas Oxley ihm gegeben hatte. Er ließ ihn ein paarmal in seine Handfläche fallen und genoss das Gefühl von dem glatten Holz auf seiner Haut. Ihm gefiel die Festigkeit und Gleichmäßigkeit seiner Maserung. Der Stock besaß genau das richtige Maß an Gewicht und eine Ausgewogenheit, als wäre er eine natürliche Verlängerung seines Armes. Als Alton den Stock ans Licht hielt, traten Schrammen und Narben auf dem Holz deutlich hervor. Aber es war gutes, dickes Schwarzdornholz. Schwarzdorn war das Beste. Er konnte froh um seinen Stock sein, denn um Withens herum wuchs nicht viel von diesem Holz.
    Bei näherem Hinsehen fiel Alton ein Fleck auf dem Holz auf. Er runzelte die Stirn. Der Fleck sah aus wie ein Spritzer Rotwein. Messwein vielleicht? Aber bestimmt nicht von dem Altar von St. Asaph.
    Von plötzlicher Energie ergriffen, holte er weit mit dem Stock aus, als wollte er ein Ziel ungefähr in Kopfhöhe treffen. Das Geräusch und den Aufprall musste er sich vorstellen. Aber bereits die körperliche Aktion, der Widerstand der Luft und die Bewegung der Muskeln in seinen Schultern versetzten ihn in Hochstimmung. Am liebsten hätte er einen kleinen Tanz auf den Steinplatten aufgeführt und einen Freudenschrei ausgestoßen. Aber das war weder der Ort noch der geeignete Zeitpunkt dafür.
    »Tod und Erneuerung.Winter und Frühjahr. Die Dunkelheit und das Licht.«
    Altons leise Stimme durchdrang die Kirche und hallte von den staubigen Steinstürzen und den dunklen Dachbalken aus Eiche wider. Das Wort »Licht« schien schärfer, drängender und mit einer anderen Färbung durch die kühle Luft zu ihm zurückzukehren, so als hätte es ein anderer ausgesprochen. Alton schwang erneut den Stock und ließ ihn durch die Luft sausen. Gebannt lauschte er dem Geräusch. Es hörte sich fast an wie Musik, wie das ferne Wispern von Stimmen aus einer
anderen Welt, die seufzend den richtigen Augenblick herbeisehnten.
    »Die Schönheit und der Kummer,Tod und Erneuerung. Die Mächte des Lichts und des neuen Lebens.«
    Alton hätte nicht zu sagen gewusst, ob die Church of England überhaupt in diese Gegend des Landes passte. Vielleicht hätte Withens etwas Robusteres und Markanteres, etwas, das mehr im Einklang mit dem Zyklus der Jahreszeiten und der Erbarmungslosigkeit der Natur stand, gebraucht. Vielleicht eine Institution, die stärker die Erinnerung an jene unglücklichen Männer wach hielt, die als Erste in Withens gelebt hatten und gestorben waren. Die Männer, die zu Hunderten beim Bau der Tunnel getötet und verstümmelt worden waren. Die Männer, die allen egal waren.
    Bereits bei seinem ersten Besuch, als Alton von der Geschichte des Dorfes erfahren hatte, hatte er sich diese Frage gestellt. Es waren die wohlhabenden Händler und Landbesitzer gewesen, die für den Bau von St. Asaph in einem Akt der Nächstenliebe gespendet hatten. Aber es war das Blut der einfachen Arbeiter gewesen, das die Landschaft geweiht hatte.
    Wieder verlor sich Alton in der Geschichte des Dorfes, aber das deprimierte ihn nur. Also ließ er erneut den Arm durch die Luft sausen und versuchte, dahinter zu kommen, weshalb seine Stimme so fremd klang.
    »Die Dunkelheit und das Licht. Das Licht .«
    Manchmal hatte Alton den Eindruck, als stünde der ganze Landstrich kurz davor, zum Heidentum zurückzukehren. Erst im letzten Jahr hatten die Feiern zum Ersten Mai in Glossop darin gegipfelt, dass die Leute eine Strohpuppe verbrannten. So etwas würde nur in Filmen passieren, hatte Alton gedacht, und ein unangenehmer Schauer lief ihm über den Rücken, als er davon las. Aber dann tröstete er sich mit dem Gedanken, dass derartige Rituale heutzutage hauptsächlich wegen der Touristen stattfanden. Kein Mensch glaubte tatsächlich noch daran, oder?
Aber die Bewohner von Glossop hatten ihre schlechten Erinnerungen aufgeschrieben, in Umschläge gesteckt und diese Umschläge an der Strohpuppe befestigt, damit sie ebenfalls in Flammen aufgingen. Aberglaube, mehr war das nicht.
    Doch dass dieses Ritual im Labour Club von Glossop stattfand, hatte ihm zu denken gegeben. Und nicht nur das. Der Verbrennung der Strohpuppe war eine Eröffnungszeremonie durch lokale Abgeordnete des Unterhauses vorausgegangen, zusammen mit einem Wohltätigkeitsfrühstück und

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