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Die einsamen Toten

Titel: Die einsamen Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Booth
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aufgebaut, damit sich die Blütenblätter überlappten und das Regenwasser abperlen konnte.
    Wäre Diane Fry hier gewesen, hätte sie dieses Verkleiden der Brunnen sicher nur als weiteren kuriosen Brauch aus der Gegend abgetan. Aber diesen Brauch gab es tatsächlich nur in Derbyshire, und er lockte Jahr für Jahr Tausende von Besuchern in den Peak District. Jeder dieser Brunnenaltäre erzählte eine Geschichte. Oft waren es religiöse Motive, aber manchmal auch Themen mit lokalem Bezug.
    »Woraus besteht der Untergrund?«, fragte Cooper und deutete
auf das blassgraue Material, das den Bildhintergrund bildete.
    »Das ist Flussspat. Aber wir sagen nur Spat dazu.«
    »Ja, natürlich.« Auch der Flussspat kam hier aus der Gegend, aus den vielen Steinbrüchen des mineralreichen White Peak.
    Die Frauen liefen geschäftig um ihn herum, und Cooper konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass er im Weg war. Noch konnte er nicht erkennen, was das Bild darstellen sollte; bisher war nur der Hintergrund ausgearbeitet. Aber bald würde in lebhaften Farben ein Bild erstrahlen, beinahe lebendig , da alle Materialien natürlichen Ursprungs waren. Manche der zahlreichen Brunnenverkleidungen, die von April bis September in der ganzen Grafschaft zu sehen waren, waren erstaunlich einfallsreich und detailfreudig. Kein Wunder, dass sie so viele Touristen anzogen. Nur hier in Withens hätte Cooper niemals mit diesem uralten Brauch gerechnet.
    »Sie sind hier aber früh dran mit dem Brunnenverkleiden, nicht wahr?«, fragte er.
    »Wir sind die Ersten in dieser Ecke der Grafschaft. Das heißt, wir sind auf das angewiesen, was um diese Zeit bereits blüht.«
    »Wird der Brunnenschmuck an diesem Wochenende gezeigt?«
    »Klar. Es würde ja sonst keinen Sinn machen, die Blütenblätter jetzt schon zu stecken. Die halten doch nur ein paar Tage.«
    Mit dem Brauch des Brunnenverkleidens wollte man ursprünglich der Wassergöttin danken, dass sie das Dorf mit sauberem Wasser versorgt hatte. Manche Dorfbewohner hatten geglaubt, sie hätten es der Reinheit ihres Wassers zu verdanken, dass sie vor dem Schwarzen Tod verschont blieben, der im vierzehnten Jahrhundert im restlichen England gewütet hatte.
     
     
    Derek Altons Hände waren voller grüner Flecken und rochen nach den Säften des Ampfers. Die Blätter sahen groß und gesund aus, aber wenn er sie mit bloßen Händen umfasste, konnte
er beide Seiten gleichzeitig spüren – die kalte und die warme. Noch eine zeitlose Dualität, die ihm im Unterholz auflauerte. Die Kälte des Todes und die Wärme des Lebens. Die Dunkelheit und das Licht.
    Alton zog rasch seine Hände zurück, als ihm einfiel, dass womöglich Schnecken an der Unterseite der Blätter klebten. Er wischte sich die Handflächen an der Hose ab und bedauerte es, seine Handschuhe nicht angezogen zu haben. Er wagte kaum, zu fest an den Blättern zu ziehen, die überraschend zart waren und zwischen seinen Fingern zerbröselten. Nur ihre Stängel waren zäh wie Unkraut, und ihre Wurzeln waren fest verankert. Hartnäckig klammerten sie sich an den Untergrund, obwohl er sich mit seinem ganzen Gewicht in den Boden stemmte, um sie herauszuziehen. Zerrissene Blätter und winzige Fetzen ihres Fleisches blieben in den Falten seiner Hände zurück, und seine Finger waren grün und glitschig vom Saft der Pflanzen. Ihre zerbrochenen Stängel rochen säuerlich.
    Die massiven Platten aus Sandstein über den Gräbern so genau einzupassen, war eine technische Meisterleistung gewesen. Die Familien hatten es sich anscheinend einiges kosten lassen, um absolut sicherzugehen, dass ihre toten Anverwandten die Platten nicht anheben und sich aus den Gräbern wieder nach oben arbeiten würden. Kein Mensch konnte eine dieser Sandsteinplatten allein heben. Nur die Natur. Die Natur drückte sie nach oben, schob sie beiseite und zog sie in die Erde, bis sie in bizarren Winkeln in die Höhe standen. Die Natur geruhte zu scherzen.
    Das Traurigste aber waren die Grabsteine auf der Westseite des Friedhofs. Im Vergleich zu den Sandsteinplatten waren sie winzig und erinnerten Alton an die kleinen Meilensteine, die man immer noch gelegentlich im Peak District am Straßenrand sah. Relikte einer vergangenen Periode, als das Reisen noch so langsam war, dass man sie nicht übersehen konnte.
    Während dieser Zeit des Jahres schafften es die kleinen Steine immerhin, gerade noch über dem Farngestrüpp hervorzuspitzen, jedoch würden sie innerhalb der nächsten ein, zwei Wochen

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