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Die einsamen Toten

Titel: Die einsamen Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Booth
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über dessen glatte Wölbung. Die Bewegung seiner Hände lenkte Altons Aufmerksamkeit auf den Helm. Er war leuchtend rot und wirkte als Kontrast zu dem dunklen Stein im Vorraum der Kirche völlig deplatziert. Mehrere Kratzer verunzierten den Helm, so als hätte er seinen Besitzer bereits davor bewahrt, bei einem Unfall schwer verletzt zu werden. Alton wollte Philip vorschlagen, den alten durch einen neuen Helm zu ersetzen. Möglicherweise war er beschädigt worden und seitdem in seiner Funktion eingeschränkt. Das nächste Mal würde er vielleicht keinen Schutz mehr bieten können.

    Aber dem Pfarrer war klar, dass er damit nur auf den Impuls reagierte, das Thema wechseln zu wollen. Wie immer, wenn er spürte, dass ihm ein schwieriges Gespräch bevorstand. Eine seiner Schwächen. Er musste lernen, sich dem Feuer auszusetzen, und konnte nur hoffen, von den Flammen gestärkt daraus hervorzugehen.
    »Na, dann raus mit der Sprache«, sagte Alton. »Geht es um Neil?«
    »Ja.«
    »Ich weiß, es ist eine schwere Zeit für dich, Philip. Vor allem ohne nahe Familienangehörige, die dich unterstützen könnten. Aber ich habe vor ein paar Tagen mit deinem Onkel gesprochen. Er sagte, er würde zu gegebener Zeit eine Feuerbestattung in die Wege leiten. Ich meine, wenn der Coroner die Leiche … wenn die endgültigen Arrangements getroffen werden können. Und soweit ich deinen Onkel verstanden habe, wird es einen humanistischen Gottesdienst geben. Das verstehe ich vollkommen – obwohl ich dachte, dass dein Bruder in den letzten Monaten etwas mehr Interesse an der Kirche zeigte. Ich hoffte sogar, weißt du …«
    Alton wurde klar, dass er ins Schwafeln geriet, und verstummte. Philip schien überhaupt nicht auf seine Worte zu achten, sondern blickte weiter zu Boden und hing seinen Gedanken nach. Der Pfarrer spürte, wie ihm warm unter seinem Mantel wurde.
    »Ich war gestern bei der Polizei«, sagte Philip.
    »Ja, natürlich. Sind sie irgendwie weiter …? Konnten sie dir etwas …? Es ist jetzt schon fast sechs Tage her. Gewiss -«
    Philip schüttelte ungeduldig den Kopf. »Bitte, Herr Pfarrer.«
    »Entschuldige.«
    Durch einen Riss im Nebel, der zwischen den Eiben hing, spähte kurz die Sonne hervor. Es sah aus, als hätte jemand dahinter eine Lampe angeknipst – blass und gelb, umgeben von
einem schwachen Hof. Bald würde sie den Nebel ganz auflösen, und es würde ein schöner Tag werden.
    »Eigentlich habe ich sie mit Informationen versorgt«, erklärte Philip. »Das wollte ich Ihnen sagen.«
    »Informationen?«
    »Ja, unter anderem schien mir wichtig, ihnen zu sagen, dass Neil schwul war.«
    Aus irgendeinem Grund ging Alton auf den nebensächlichsten Aspekt des Satzes ein. »Welche anderen Dinge?«
    Philip bedachte ihn mit einem rätselhaften Lächeln. »Nichts, das Sie betrifft, Herr Pfarrer.«
    »Ich verstehe.«
    »Aber sicher wird die Polizei jetzt noch mal mit allen reden wollen. Also mit den Leuten, die mit Neil zu tun hatten.«
    »Ja, das vermute ich auch.«
    »Ich dachte, Sie sollten das wissen.«
    Alton hatte sich selbst versprochen, der wuchernden Wildnis auf dem Friedhof heute zu Leibe zu rücken, falls das Wetter schön sein sollte. Deswegen war er so früh am Morgen bereits an Ort und Stelle, damit er mit der Arbeit beginnen konnte, sobald der Nebel sich aufgelöst hatte. Er hatte diese Arbeit bereits zu lange vor sich hergeschoben, und jetzt würde ihm niemand mehr dabei helfen. Er war auf sich allein gestellt.
    Philip Granger beobachtete ihn und wartete auf eine Reaktion. »Haben Sie verstanden, was ich sagte, Herr Pfarrer? Ich wollte, dass Sie das wissen.«
    »Ja, Philip. Danke, vielen Dank.«
    »Es ist immer gut, zu sagen, was man weiß«, fügte Philip hinzu. »Es sei denn, man hat einen guten, einen sehr guten Grund, es nicht zu tun.«
    Derek Alton nickte. Aber er konnte an nichts anderes als an den Ampfer denken, der auf seinem Friedhof wuchs. Er konnte sich nicht ganz erklären, weshalb die Blätter des Ampfers ihn mehr als die anderen Pflanzen störten. Als er an ihnen zerrte,
knitterten sie in seiner Hand wie alte Haut. Ihre Oberfläche, wo die Sonnenstrahlen sie berührt hatten, mochte warm und trocken sein. Aber darunter waren sie kalt und feucht wie ein Grab.
     
     
    Philip Granger schwang sich auf sein Motorrad und setzte den Helm auf. Sein Blick fiel auf Withens, das jenseits der Brücke lag. Er hatte noch eine Aufgabe, noch einen Besuch zu erledigen. Dann konnte er vielleicht mit seinem Leben

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