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Die einsamen Toten

Titel: Die einsamen Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Booth
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vollständig darunter verschwinden. Alton hatte keine Erklärung dafür, weshalb die Menschen, an welche die Steine erinnern sollten, nicht ihre Namen darauf verdient hatten. Stattdessen waren nur Initialen und ein Datum eingemeißelt. Hier lagen G. S. und M. W. begraben, und dort drüben C. S. Und alle schienen sie im Jahr 1849 verstorben zu sein.
    War es nur Geldmangel gewesen, der die ärmeren Familien gezwungen hatte, sich auf kleine Steine ohne Platz für eine richtige Inschrift zum Gedenken an ihre Toten zu beschränken? Oder war das nur wieder so ein kurioser Brauch?
    Aber wenn er sich die großen Sandsteinplatten ansah, die näher bei der Kirche lagen und auf denen in kunstvoll gemei ßelten Buchstaben Bibeltexte zitiert und komplette Familiengeschichten erzählt wurden, wusste Alton die Antwort. Die Menschen in Withens waren nicht durch Glauben und Tradition, sondern durch Wohlstand und gesellschaftliche Stellung voneinander getrennt. Davon konnte man sich auf vielen Kirchhöfen in Tausenden von kleinen Städten und Dörfern überzeugen. Die Reichen hatten sich einen Platz näher am Himmel kaufen können.
    Ein christliches Begräbnis basierte auf dem Glauben, dass die Toten eines Tages auferstehen würden. Der Körper ruhte wie ein Samenkorn in der Erde und wartete darauf, wiedergeboren zu werden.
    Das größte Ärgernis auf dem Friedhof war jedoch der Adlerfarn, der den ganzen Hang überwucherte. Grasende Schafe hielten den Bewuchs normalerweise kurz, aber in den Friedhof kamen die Tiere wegen der Steinmauern nicht hinein. Jedes Jahr wuchs neuer Farn aus den abgestorbenen Pflanzen des vergangenen Herbstes. Vor kurzem hatte der Frost einige Farnwedel überrascht, als sie sich gerade entrollten. Jetzt waren sie trocken,
braun und abgestorben und zerbröselten unter Altons Fingern, während der Rest der Pflanze grün und saftig weiter wuchs.
    In einer Ecke des Friedhofs hatten ein Bergahorn und ein paar junge Stechpalmen mehrere Gräber okkupiert. An anderen Stellen starteten Weidenröschen ihre Frühjahrsoffensive, der Rhododendron drohte zu erblühen, die Kastanien entrollten wie Fahnen ihre Blätter, Dornenhecken, Farne und Disteln breiteten sich ungehindert aus, und am Boden lagerten wie Tretminen die kleinen, schwarzen, kugelförmigen Köpfe des Wegerichs.
    Alton wusste, dass es Dutzende von Gräbern gab, die seit Jahren kein Tageslicht mehr gesehen hatten und es wahrscheinlich nie mehr sehen würden. Ihre verstümmelten Inschriften wirkten wie ironische Kommentare: »Dem geheiligten Andenken … hier ruht der Körper … hauchte sein Leben … Gesegnet sind die Toten, die sterben im Herrn.«
    Die Bergahorne hatten sich wie eine Seuche im ganzen Friedhof ausgebreitet. Der Wind hatte ihre Samenhülsen unkontrolliert in jede Ecke getragen. Bei seiner Ankunft hatte Alton die Diözese überredet, Geld dafür auszugeben, die zügellosen Bäume bis auf die Wurzeln zurückschneiden zu lassen, mit der Begründung, sie würden die Gräber beschädigen und die Grabsteine herausschieben. Doch jetzt trieben die verbliebenen Reste der Bäume bereits wieder. Ihre amputierten Stämme schlangen sich um die Kanten der Grabsteine wie Finger, die versuchten, die Steinplatten zu heben. Ihre Fingernägel waren grün – neue Frühjahrstriebe, die dem Grab entstiegen.
    Hinter all dem stand etwas, das nie erwähnt wurde. Aber Alton musste jedes Mal daran denken, wenn er das grelle Grün der üppig sprießenden Pflanzen in seinem Friedhof sah. Teil des Problems war, dass der Vegetation in den älteren Bereichen des Friedhofs die Nahrung nie ausging. Die Seitenbretter der alten Särge waren sicher bereits vor vielen Jahren eingeknickt, so dass die torfige Erde durch die Risse im Holz eingesickert
war und sich mit den Gebeinen und den vermoderten Gewändern der Toten vermischt hatte. Und zusammen mit der Erde waren Insekten und anderes Getier, das dort unten im Dunkeln lebte, eingedrungen. Und dahinter besiedelten die Wurzeln der Pflanzen die Oberfläche – blasse, dünne Tentakel, die in alle Spalten drangen und zu Holz, Knochen und vertrocknetem Fleisch vordrangen. Erde zu Erde, im wahrsten Sinn des Wortes. Und von der Erde zurück an das Licht in einem nicht zu bremsenden Ausbruch von Energie, wenn jedes Frühjahr aufs Neue frische Säfte die Stängel der Pflanzen emporschossen und in einem grünen Rausch explodierten. Fast so, als könnten die Toten allzeit zurückkommen und die Lebenden überwältigen.
    Denn Energie ging nie

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