Die einsamen Toten
ausfindig zu machen, wäre niemand auf die Idee gekommen, es kriminaltechnisch untersuchen zu lassen.
Aber genau das war geschehen, und das Ergebnis befand sich nun in Frys Händen. Auf der rechten Seite des Handys, auf dem blauen Inlay, zogen sich in Schlieren die getrockneten Überreste einer dunkelbraunen Flüssigkeit entlang. Die Flüssigkeit hatte die Tasten verklebt und war in das kleine Loch geflossen, wo man das Kabel zum Aufladen hineinsteckte. Laut
Beschriftung des Beutels waren die Flecken als menschliches Blut identifiziert worden.
Fry wusste, dass sie möglicherweise auf die letzten verbliebenen biologischen Spuren von Emma Renshaw blickte. Ihre Finger berührten quasi die jämmerlichen Überreste von Emmas Leben, einen eingetrockneten Tropfen ihrer DNS.
Und das hatte den Tunnel der Angst in ihr geöffnet, den sie bereits die ersten Meter entlangschlitterte.
Detective Constable Gavin Murfin hatte rotblondes Haar und ein rosiges Gesicht. Seiner Unterlippe schienen immer ein paar Tupfer Tomatensauce anzuhaften. Er war schon weit über vierzig, schien sich jedoch keinerlei störende Gedanken über den Zustand seines Herzens zu machen. Aber er verfügte über große Erfahrung, und das war heutzutage Gold wert. Das musste selbst Diane Fry zugeben.
Fry fand Detective Constable Murfin an seinem Schreibtisch im Büro der Kriminalpolizei, wo er gerade telefonierte und nebenbei etwas aus einer Papiertüte knabberte. Fry wartete geduldig, bis er den Hörer auflegte.
»Und über Sie werde ich mich beim Chief Constable auch beschweren, Madam«, schnauzte er das Telefon an. Er hob den Kopf und grinste Fry an. »Unser Kundendienst entspricht leider nicht dem hohen Qualitätsstandard, der der Lady ihrer Ansicht nach für ihre Gemeindesteuer zusteht.«
»Hoffentlich warst du wenigstens höflich zu ihr, Gavin«, sagte Fry.
»Höflich? Ich habe ihr so viel Honig ums Maul geschmiert, dass sie jetzt gleich vor der Tür stehen wird, um mich flachzulegen.«
Fry war nicht in der Stimmung für Murfins speziellen Humor.
»Gavin, was machst du im Moment?«
»Häh?«
»Nicht viel, wie es aussieht.«
»Ich mache gerade mal eine Minute Pause.«
»Okay, die Minute ist um. Es gilt Verbrechen aufzuklären.«
»Ich habe in dem Jahr schon eines aufgeklärt, Diane.«
»Na, dann wird es Zeit, deinen Schnitt zu heben. Mal sehen, ob wir ihn nicht auf eins Komma fünf hochkriegen.«
Murfin seufzte. »Lass mich wenigstens noch das Teil hier fertig essen.«
Fry sah sich das Sandwich näher an. »Gavin, ist es das, was ich denke?«
»Speck und Würstchen.« Murfin leckte sich das Fett von den Fingern und verteilte den Rest auf einem Laborbericht.
»Der Speck besteht zur Hälfte aus reinem Fett, Gavin. Hast du noch nie was von Cholesterin gehört?«
»Selbstverständlich habe ich das. Ich war mit meiner Frau im letzten Sommerurlaub zwei Wochen dort.«
Fry atmete langsam ein und unterdrückte das dringende Bedürfnis, laut loszuschreien. Sie wusste, dass es die Angst war und nicht ihre Wut auf Murfin. Damit würde sie sich später beschäftigen müssen.
»So, hör auf, den Clown zu spielen, Gavin«, ermahnte sie ihn. »Hier steht jetzt gleich ein Ehepaar namens Renshaw vor der Tür.«
Murfin, der den Mund voller Würstchen hatte, gab ein gepresstes Stöhnen von sich. »Das ist nicht dein Ernst! Doch nicht Emma Renshaws Eltern?«
»Du erinnerst dich an den Fall?«
» Alle erinnern sich an den Fall. Was haben sie denn jetzt schon wieder angestellt?«
»Wer?«
»Die Renshaws natürlich.«
»Weshalb sollten sie etwas angestellt haben?«
»Na, die sind doch mittlerweile Stammkunden von uns. Frag mal die vom Verkehr.«
»Gavin, ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.«
»Dann solltest du dir schleunigst ein paar der Renshaw-Akten zu Gemüte führen. Vielleicht ist der Schock dann nicht gar so groß.«
Es klingelte. Murfin ging ans Telefon und schnitt eine Grimasse in Richtung Fry.
»Zu spät. Sie sind schon da.«
»Bring sie herauf, Gavin. Nein, halt, warte eine Minute. Komm her.«
Murfin blieb auf seinem Weg zur Tür vor Frys Schreibtisch stehen. Sie öffnete eine Schublade, holte ein Kleenex aus einer Box, wischte ihm sorgfältig die Tomatensauce vom Kinn, knüllte das Tuch zusammen und warf es in den Papierkorb.
»Okay. Jetzt siehst du nicht mehr aus wie ein übergewichtiger Vampir. Sonst machst du den Renshaws noch Angst.«
»Du spinnst wohl. Um mich müsstest du dir Sorgen machen, Diane. Die zwei sind
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