Die einsamen Toten
ihrer Küche. Und hoffentlich würde er sie dann nie mehr anfassen. Sie überlegte flüchtig, ob sie sie nicht verstecken sollte, ehe er zurückkam. Vielleicht vergaß er, dass sie existierte.
Und wer konnte die Flinte in dem Pick-up gelassen haben? Welcher Nachbar? Was hatten sie schon für Nachbarn? Sie hatten doch mit keinem was zu tun. War es jemand, der über ihre Probleme Bescheid wusste? Oder log Michael sie tatsächlich an, was die Herkunft der Waffe betraf? Aber das glaubte sie nicht. Normalerweise wusste sie immer ganz genau, wann er die Wahrheit sagte. Er war nicht gewitzt genug, sich so eine Geschichte einfallen zu lassen. Dazu fehlte ihm die Fantasie. Und sie glaubte auch nicht, dass er wusste, wie man sich eine Schrotflinte besorgte. Ihres Wissens nach verstand er von Waffen ebenso wenig wie sie.
Nur eines beruhigte sie dann doch – er wusste sicher nicht, wie man damit umging.
Michael Dearden nahm die Schrotflinte vom Stuhl und hielt sie wie einen Schild von sich gestreckt. Aber es fühlte sich falsch an. Er versuchte, sich zu erinnern, wie die Jäger ihre Waffen hielten, wenn sie auf Moorhuhnjagd waren. Er glaubte, dass sie sie über der Armbeuge trugen, so dass der Doppellauf aus Sicherheitsgründen zu Boden zeigte. Aber auch das fühlte sich falsch an, als er es ausprobierte. Falls sich im Gehen versehentlich
ein Schuss löste, würde er sich bestimmt eine Ladung in den Fuß jagen.
Schließlich entschied sich Dearden, die Schrotflinte mit nach oben zeigendem Lauf krampfhaft an seine Brust zu drücken. Ein sich versehentlich lösender Schuss wäre jetzt durch die Küchendecke ins Schlafzimmer gegangen. Michael sah Gail vor sich, die oben im Bett lag, und setzte die Waffe hastig wieder ab. Aber dann fiel ihm ein, dass sie nicht einmal geladen war, und er kam sich lächerlich und nutzlos vor.
Was war er nur für ein Mann, dass er nicht wusste, wie man ein Gewehr hielt? Kleine Jungen erfassten das doch instinktiv, verwandelten jedes geeignete Stück Holz in eine imaginäre Flinte und zielten damit spielerisch auf jeden in ihrer Umgebung. Das war doch hoffentlich nur Gewöhnungssache. Vielleicht sollte er Schießübungen machen. Dearden warf erneut einen Blick zur Decke. Möglicherweise war Gail doch nicht da.
Ben Cooper verharrte an diesem Abend neben seinem Telefon. Er war nervös wegen des Anrufs, den er von Angie Fry erwartete. Er hatte entschieden, was er ihr sagen würde, nur der genaue Wortlaut war ihm noch nicht klar.
Er goss sich ein Bier ein, während er wartete, setzte sich in einen Sessel, stand wieder auf, schaltete den Fernseher ein und regelte mit der Fernbedienung die Lautstärke. Irgendwann steckte Randy den Kopf durch die Küchentür, in der Hoffnung, Cooper könnte als bequeme Unterlage für den weiteren Abend in Frage kommen. Doch mit misstrauisch zuckender Nase machte die Katze kehrt und schlich in denWintergarten zurück, um stattdessen lieber neben dem Abzugsrohr zu schlafen.
Als das Telefon klingelte, sprang Cooper hoch, als träfe es ihn völlig unerwartet. Er packte die Fernbedienung, entsann sich, dass die Lautstärke ohnehin schon auf leise gestellt war, und nahm zögernd den Hörer ab.
»Wie haben Sie sich entschieden?«, fragte Angies Stimme.
»Ich werde es nicht tun.«
Sie stieß in einem langen Atemzug die Luft aus, die durch das Telefon in fast intimer Nähe in sein Ohr drang. »Ben, ist Ihnen denn egal, was aus Diane wird?«
»Nein, ist es mir nicht. Und das ist auch der Grund, weshalb ich es nicht mache. Sie haben die falsche Person dafür ausgesucht, Angie.«
»Es gab sonst niemanden«, erwiderte sie. Es gelang ihr kaum, die Verachtung in ihrer Stimme und die unausgesprochene Schlussfolgerung zu verbergen, dass sie lieber mit jedem anderen auf der Welt zu tun gehabt hätte als mit Cooper. »Ich habe sonst niemanden gefunden, den man als ihren Freund hätte bezeichnen können.«
»Da kann ich auch nichts machen.«
»Die Einzigen, zu denen sie in den West Midlands noch Kontakt hat, sind unsere alten Pflegeeltern in Warley. Mit ihnen kann ich ja schlecht reden.«
»Ja, das wäre ein Schock für sie«, gab Cooper zu.
»Diane hat zu keinem ihrer alten Kollegen in den West Midlands noch Kontakt. Ich begreife das nicht.«
»Vielleicht wollte sie einfach diesen Teil ihres Lebens hinter sich lassen«, antwortete Cooper. Und dabei lauschte er dem Schweigen am anderen Ende der Leitung und stellte sich vor, wie Angie Fry das Gesicht verzog und
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