Die einsamen Toten
auf Sarah Renshaws Gesicht zeigte ihr, dass ihr die Frage bisher nicht in den Sinn gekommen war. Aber jedes Fahrzeug musste einmal jährlich durch den TÜV, sobald es drei Jahre auf dem Buckel hatte.
Fry schaute zu Howard hinüber. Seine Miene war ausdruckslos, seinem Verhalten war nichts zu entnehmen. Aber weshalb er auch immer Gleichgültigkeit heuchelte, er wusste genau, wie alt der Wagen war.
Howard drehte sich zu seiner Frau und berührte sie sacht am Arm.
»Das habe ich schon vor ein paar Monaten erledigt«, sagte er.
»Ja. Danke dir.« Aber Sarah machte noch immer den Eindruck, als würde sie nichts begreifen.
Fry öffnete die Fahrertür des Audi, aus dem ihr ein starker Geruch entgegenschlug, den sie zuerst nicht erkannte. Ein warmer, erdiger Duft, der aus dem Teppich hochzusteigen und aus den Polstern der Sitze zu quellen schien. Fry begriff, dass sie die letzten Spuren von Emma Renshaws Lieblingsparfüm einatmete, die seit mehr als zwei Jahren in ihrem Wagen gefangen waren. Die emotionale Bedeutung dieser Erkenntnis traf Fry wie ein Hammerschlag. Es war, als hätte sie Emma auf dem Fahrersitz angetroffen, die lachte, das Haar zurückwarf und sich Rive Gauche hinter die Ohren sprühte.
Fry richtete sich auf und sah sich nach den Renshaws um.
Sie war nicht die Einzige gewesen, die den Duft wahrgenommen hatte. Auf die Renshaws hatte die in dem Wagen freigesetzte Luft eine verheerende Wirkung ausgeübt. Sarahs Gesicht war gerötet und verquollen, Tränen liefen über ihre Wangen. Howard warf Fry einen verzweifelten Blick zu, als seine Frau sich in seinem Arran-Pullover vergrub.
Fry stellte sich Mrs Renshaw vor, wie sie den ganzen Tag aus dem Fenster schaute und wartete, dass ihreTochter nach Hause kam. Die Tochter war nicht nur gesund und munter, sondern immer noch neunzehn Jahre alt, trug dieselben Kleider wie am Tag ihres Verschwindens und konnte es kaum erwarten, das Bild, an dem sie gearbeitet hatte, fertig zu stellen oder mit ihrem Audi auf Spritztour zu gehen.
Junge Menschen, die vermisst wurden, blieben in der Erinnerung exakt so wie am Tag ihres Verschwindens. Vielleicht war ein früher Tod das wahre Geheimnis ewiger Jugend.
»Mr Renshaw, haben Sie in der letzten Zeit diesen Wagen benutzt?«
»Nein, natürlich nicht«, erwiderte er.
»Hat ihn sich jemand ausgeliehen?«
»Nein. Wir würden ihn auch nicht verleihen. Das ist Emmas Wagen.«
Frys Blick fiel auf Sarah, die sich langsam von ihrem Mann löste.
»Mrs Renshaw, wissen Sie , ob dieses Fahrzeug in letzter Zeit diese Garage verlassen hat?«
Sarah Renshaw schaute kurz zu ihrem Mann, dem ihr Schweigen allmählich aufzufallen schien. Erstaunt sah er sie an und wandte sich von dem Wagen ab.
»Es war doch nur für ein paar Stunden«, beteuerte sie. »Und ich wusste, dass Emma nichts dagegen hätte. In dem Moment schien es mir sogar äußerst passend.«
»Sarah, wovon sprichst du, in Gottes Namen?«, fragte Howard.
»Ich überlegte mir, was Emma dazu sagen würde, wenn sie hier wäre. Und ich wusste, dass sie ›ja‹ gesagt hätte. Also habe ich ihm den Wagen gegeben. Als du bei dieser Konferenz in London warst.«
»Mrs Renshaw -«, setzte Fry an.
»Ich war sicher, niemandem zu schaden. Da war doch diese Verbindung. Eine Weile konnte ich mir vorstellen, dass sie zusammen ausgegangen waren und er Emma heimbringen würde, wenn er den Wagen zurückbrächte.«
»Ich kann es nicht glauben«, rief Howard und schlug mit der flachen Hand auf den Kotflügel. »Das hast du einfach so hinter meinem Rücken getan. Wieso hast du mir nichts davon gesagt?«
»Ich dachte, du siehst die Sache anders und bist vielleicht wütend auf mich.«
»Mrs Renshaw«, wiederholte Fry, »wem haben Sie den Wagen überlassen?«
»Es war Alex«, antwortete sie. »Ich habe ihn Alex Dearden geliehen.«
Gail Dearden stand in ihrer Küche in Shepley Head Lodge und starrte ihren Mann an. Plötzlich kam sie sich in der eigenen Küche fremd vor. Ein Gegenstand auf dem Tisch hatte ihr jede Vertrautheit genommen.
»Wo kommt die Flinte her?«, fragte sie.
»Die hat jemand im Pick-up gelassen«, sagte Michael.
»Was? Einfach so?«
»Ja.«
»Ich glaube dir nicht.«
Er zuckte die Schultern. »Wie du meinst.«
Gail glaubte zu wissen, woher sie die Lüge kannte. Dieselbe Antwort hatte einige Jahre zuvor ein Angeklagter vor Gericht gegeben, ein Farmer, der ins Gefängnis musste, nachdem er einen Einbrecher in seinem Haus erschossen hatte. Michael
hatte den
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