Die einsamen Toten
fragte Fry. »Die Augen schwammen quasi
in Blut. Wurden dem Opfer hier weitere Verletzungen zugefügt?«
»Verletzungen?«, wiederholte Mrs Van Doon. »Man hat sie entfernt.«
»Jetzt machen Sie doch Witze.«
»Nein, mache ich nicht. Aber keine Sorge.«
»Keine Sorge? Sie erklären uns, man hätte dem Opfer die Augen entfernt, und wir sollen uns keine Sorgen machen?«
»Es geschah post mortem.«
»Großartig. Ein Killer, der seinem Opfer die Augen stiehlt.«
»Aber es war nicht der Killer.« Die Pathologin deutete auf eine Reihe von Beuteln mit Beweismitteln, die von den Kriminalbeamten an verschiedenen Stellen des Tatorts zusammengetragen worden waren. Sie enthielten Neil Grangers Kleidungsstücke und diverse Partikel, die man daran gefunden hatte. »Da haben wir eine Feder, schwarz. Und einige Vogelexkremente, weiß. Die Augen sind übrigens nicht herausgeschnitten, sondern mit roher Gewalt herausgerissen worden. Ich würde sagen, dass ein oder mehrere Mitglieder der Familie der Krähenvögel der oder die Übeltäter waren.«
»Na, da bleibt einem ja die Spucke weg.«
»Ja. Außerdem hatte das Opfer Blut an seiner Hand. Und nicht nur Blut, sondern auch Gehirn-Rückenmarksflüssigkeit.«
Fry verzog angewidert das Gesicht. »Von dem Schädelbruch. Er hat seine Verletzung betastet. Aber sagten Sie nicht …?«
»Das Opfer war definitiv bewusstlos, als sein Kopf auf dem Stein aufschlug. Deshalb ist es höchst unwahrscheinlich, dass er die Kopfwunde selbst berührte. Unmöglich sogar, würde ich sagen.«
»Können Sie uns das näher erklären«, bat Fry.
»Also, ich würde daraus schließen, dass ein Dritter Blut und Gehirn-Rückenmarksflüssigkeit auf seine Hand übertragen hat.«
»Ein Dritter. Jemand hat erst seine Kopfwunde und dann seine Hand berührt? Sein Mörder? Oder einer der Feuerwehrmänner, die die Leiche fanden?«
»Durchaus möglich.«
»Vielleicht auch ein Polizist. Da gibt es ein paar Spezialisten, die können am Tatort einfach ihre Hände nicht bei sich behalten.«
»Und dann ist da noch eine Verletzung«, sagte Mrs Van Doon.
»Noch eine?«
Fry warf einen prüfenden Blick auf den Kopf, sah aber nichts außer der gequetschten und aufgeplatzten Haut neben Neil Grangers rechter Schläfe, die in schaurigen Schattierungen leuchtete.
»An einer anderen Körperstelle?«
»Sie können nicht verbergen, dass Sie sich noch Hoffnungen machen«, meinte Mrs Van Doon mit einem kleinen Lächeln. »Sie hätten so gern einen Beweis für eine Mordanklage. Das ist es doch, was ihr Ermittler normalerweise wollt. Eine Verurteilung wegen Totschlags reicht euch nicht, wie?«
»Mag schon sein«, erwiderte Fry ungeduldig. »Ich habe mir darüber noch keine Gedanken gemacht.«
»Also, zusätzlich liegt noch ein Ellenbruch vor.«
»Eine Minute – Elle? Im Arm?«
»Korrekt.«
»Er hatte einen gebrochenen Arm?«
Die Pathologin hob einen Zipfel der Plastikplane an. »Sehen Sie?«, sagte sie.
Neil Grangers linker Unterarm war stark geschwollen und voller Hämatome. Und noch etwas schien damit nicht zu stimmen. Fry beugte sich vor, um besser sehen zu können, prallte aber entsetzt zurück. Die Haut an der unteren Seite des Unterarms sah aus, als sei sie entweder aufgebrochen oder zerfetzt. Aufgeplatzt war der Ausdruck, der Fry in den Sinn kam. Doch
Grangers Haut war nicht infolge einer äußeren Schlageinwirkung aufgebrochen, sondern quasi von innen aufgerissen. Durch das Loch ragte das Ende eines Knochens, einer obszönen Kreatur gleich, die ihren Kokon verließ: eine weiße Made, die das Licht suchte.
Allein die Vorstellung, irgendetwas könnte aus ihrem Körper treten, machte Fry krank und jagte ihr kalte Schauer über den Rücken. Es war das Schrecklichste, was sie sich vorstellen konnte. Als sie noch ein Teenager war, hatte sie sich beharrlich geweigert, sich zusammen mit ihren Klassenkameraden den Film Aliens auf Video anzuschauen. Sie hatte schon so viel über die Szene gehört, in der aus dem Körper des Schauspielers John Hurt eine Kreatur herausplatzte, die zuvor in seiner Brust herangewachsen war. Fry wusste, dass sie wahrscheinlich in Ohnmacht gefallen wäre, und das hätte ihr taffes Image ruiniert, das sie damals gerade kultivierte. Selbst jetzt noch wollte sie den Film nicht sehen, ebenso wenig wie sie innere Organe aus einer Bauchwunde quellen sehen wollte. Sie wollte nie die Knochen unter der Haut sehen, weder real noch eingebildet.
Fry schluckte. »Hat er sich den Arm im Fallen
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